Der Senn Albert Raess rezitiert einen Alpsegen auf der Furgglenalp im Alpstein AI. Foto: Keystone, Gian Ehrenzeller

«Lobä, zuä Lobä! I Gotts Namä!»

Der Betruf auf den Alpen

Auf den Alpen in katholischen Gegenden hat sich bis heute ein alter religiöser Brauch erhalten: Der Betruf oder das Ave Maria, wie der Alpsegen früher im Sarganserland hiess.

Angelo Garovi, früherer Staatsarchivar des Kantons Obwalden

Der Dichter Heinrich Federer schreibt im «Pilatus», seiner Erzählung aus den Alpen: «Es unterbrach mich ein schöne, laute, junge Männerstimme hoch vom Berge herab. Sie sang etwas Langsames, Tonarmes, Feierliches, etwas von urweltlicher Einfachheit, so wie etwa die Psalmen oder die ältesten Volkslieder tönen. Man verstand kein Wort, keine Silbe. Es schien eine nicht mehr gesprochene Sprache zu sein, eine Sprache, so alt wie die Berge oder wie der Himmel über ihnen. Ja, die gleiche Sprache, wie die Berge sie reden, wenn sie ihre Wälder aufschütteln, ihre Lawinen werfen, und dann wieder im tiefsten Frieden sich dem Eroberertritt des Menschen beugen. Es war der uralte Betruf.»

«Der uralte Betruf» – ja, der Betruf ist eines der ältesten dichterischen und musikalischen Zeugnisse alpiner Volkskultur. Die Älpler bitten darin jeden Abend beim Einnachten Gott, Maria und die Heiligen, Mensch, Hab und Gut während der Nacht in ihre Obhut zu nehmen. Einzelne Teile des Gebets reichen tief ins Mittelalter, vielleicht sogar in vorchristliche Zeit zurück. Im 14. Jahrhundert scheint sich ein Vieh- und Hirtensegen mit dem Ave Maria (Gegrüsst seist du, Maria) zum heutigen Alpsegen verknüpft zu haben, wie Alois Senti, der Sagenforscher aus dem Sarganserland, schreibt. Die Älpler lernten das Segensgebet auswendig und gaben es jeweils von Generation zu Generation weiter, ohne es aufzuschreiben.

Neben Alois Senti haben verschiedene Forscher, so vor allem die Musikdirektoren Heinrich Szadrowski (Chur) und August Wirz (Sarnen), die verschiedenen lokalen Alpsegen und Betrufe aufgezeichnet. August Wirz, der spätere Obwaldner Staatsarchivar, hat 1943 sogar eine Dissertation über den «Betruf in den Schweizer Alpen» verfasst. Er zeigt darin, dass der Betruf in den innerschweizerischen Alpen ebenso anzutreffen ist wie im st. gallischen, glarnerischen und liechtensteinischen Alpengebiet. Er soll früher auch auf den Alpen in Appenzell, Graubünden, im Wallis und im Berner Oberland gepflegt worden sein. Der Musiker und Historiker weist sogar auf die Verwandtschaft der Betrufmelodie mit den Gesängen der Naturvölker - bis an den Hindus.

Der Betruf in Obwalden

Der Betruf, vom Senn mit der Volle (hölzerner Milchtrichter) auf einem Vorsprung ‹gesungen›, beginnt mit dem Lobe-Ruf: «Lobä, zuä Lobä! I Gotts Namä! Lobä!» Lobä hat nicht etwa die Bedeutung von «loben», sondern das Wort wird als Zuname für Kühe gebraucht und ist keltischen Ursprungs. Der Loberuf ist ein Lockruf für das Vieh. Die Lockrufe sind mit der Zeit zu einem Bestandteil des Betrufes geworden. «Loba» (französische «Lioba») tritt uns auch in den verschiedenen Kuhreihen entgegen.

Nach dem Lobe-Ruf erfolgt die Anrufung der Heiligen. In den Alpen um den Sarnersee ruft der Älpler: «Gott und Maria, der häilig Sant Antoni und Sant Wendel und der häilig Landesvater Bruäder Chlais wellid disi Nacht uf diser Alp iri liäbi Herbergig haltä». Nebst der Mutter Gottes wird vor allem der hl. Wendelin angerufen: Er ist im Volksglauben der Hüter der gesamten Herde. Und der hl. Antonius ist der Schutzpatron der Haustiere, besonders der Schweine. Selbstverständlich darf in Obwalden der Landespatron Bruder Klaus nicht fehlen. Im Engelberger Betruf werden die Klosterheiligen Sankt Floridus und Sankt Eugenius angerufen. Die Heiligennamen stammen meist aus der Lokaltradition der Kirchen (Patrozinien).

Dem Anruf der Heiligen folgt ein Satz, der nicht leicht zu erklären ist: Das ist das Wort, das weiss Gott. Er ist nichts anderes als der letzte Rest aus dem Johannesevangelium, das dem Alpsegen im Wallis und in Uri beigefügt wurde. Vom Prolog „Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort” ist nur mehr ein kleiner Satz übrig geblieben.

Als Mittelpunkt des Betrufs ertönt der dreimalige Anruf an Maria: Ave, Ave, Ave Maria. Die Mutter Gottes nimmt eine Vorrangstellung ein: sie gilt als Helferin in aller Not und Gefahr. Volkskundlich interessant ist das Motiv des Kreisziehens, des «goldenen Rings», das in den Betrufen vorkommt. Im Giswiler Betruf heisst es: «Hiä uf diser Alp isch ä goldigä Ring. Darin sitz diä liäb Miotter Gottes mit ihrem allerhärzliäbschtä Chind.» Viele Sagen berichten von der segenspendenden zauberhaften Kraft, die der Ring (Kreis) ausübt. Diese magische Kraft soll innerhalb des Ringes wirken, in dem der Betruf zu hören ist («und alles was zu diser Alp ghörä tuät, sell gsägnet si»).

Der Betruf ist zweifellos ein eindrückliches archaisches Relikt mit verschiedenen Elementen aus der langen christlichen Kulturgeschichte. Der Betruf wird erstaunlicherweise immer noch bei den Älplern als altüberliefertes Gebet besonders geschätzt, wie auch die Alpensegnung zu Beginn der «Wildi». Die Sennen glauben an die Wirkung der im Gebet überlieferten und gleichsam im Rezitationston des gregorianischen Chorals gesungenen Worte mit den charakteristischen Quartsprüngen - vielleicht denken wir in der Coronazeit auch wieder einmal über dieses schöne gesungene Fürbittegebet nach.

 


In den Berner Alpen hat sich der Brauch des Alpsegens oder des Betrufs nicht erhalten. In Einzelfällen gab und gibt es katholische Sennen und Älplerinnen, die den Brauch weiterführten. Auch bekannt ist die Tradition, dass Bauern im Bernbiet für die Segnung der Gebäude und des Viehs Priester aus dem Wallis oder der Innerschweiz (Engelberg) kommen liessen.
Wieso der Brauch des Alpsegen aber komplett abbricht, kann nicht genau bestimmt werden. Es hat sicherlich mit der Reformation zu tun. Die starke Rolle der Mutter Gottes im Betruf geht nicht konform mit reformiertem Geist, ist sie doch eine «papistische» Heilige.         kr


Hinweis: Einen vollständigen Innerschweizer Alpsegen finden Sie  hier, auf der Seite des Liturgischen Instituts der deutschsprachigen Schweiz

Hier hören Sie einen Betruf von der Schafalp Oberberg, Uri

 

 

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