Die Geschichten von Migrant*innen erinnern Pater Oliver Potschien an jene seiner Vorfahren. Foto: Andy Aitchinson

Migration neu denken

Online-Studiengang der Uni Fribourg - drei Absolvent*innen berichten.

Im Frühling 2020 hat die Universität Fribourg einen berufsbegleitenden Online-Studiengang zu Kirche, Migration und Gesellschaft lanciert. Damit widmet sie sich einem hochaktuellen Thema – während und nach dem coronabedingten Lockdown. Drei der sieben ersten Absolvent*innen berichten.

Autorin und Interviews: Anouk Hiedl

Migration ist allgegenwärtig, der Umgang damit in den vielförmigen Realitäten von Kirche und Gesellschaft eine Herausforderung. Am 27. April 2020 hat die Theologische Fakultät der Universität Fribourg dazu einen berufsbegleitenden Online-Studiengang lanciert (siehe Kasten). Die ersten sieben Teilnehmenden arbeiten in Deutschland auf verschiedenen Verantwortungs- und Leitungsebenen mit Migrant*innen und haben zum Teil selbst eine Migrations- oder Fluchtgeschichte.

Gemäss Prof. Salvatore Loiero, Mitinitiator des Online-Lehrgangs, basiert die Weiterbildung auf der Reflexion und Vermittlung biblisch-theologischer, pastoraler, kirchen- und gesellschaftsbezogener wie selbst- und organisationsbezogener Kompetenzen im Kontext menschlicher Mobilität und Migration. «In diesem ersten gross angelegten Online-Studiengang der Universität Fribourg stehen wir in engem Erfahrungsaustausch mit unseren Absolvent* innen und Dozent*innen.» Die Pandemie habe von allen ein noch flexibleres Zeit- und Organisationsmanagement eingefordert. Es habe sich aber gezeigt, dass die hohe Motivation und pragmatische Offenheit aller Beteiligten «ein sehr grosses Plus» sei.

 

Michael Fisehaye, 33,

ist 2010 von Eritrea übers Mittelmeer nach Deutschland geflüchtet. Er hat Deutsch gelernt, an einem Tandem-Projekt für Geflüchtete und Studierende teilgenommen und absolviert jetzt ein Bachelorstudium in Sozialer Arbeit an der Evangelischen Hochschule des Rauhen Hauses in Hamburg.

«pfarrblatt»: Sie haben über eine persönliche Empfehlung vom CAS «Pastoral in den Kontexten menschlicher Mobilität und Migration» der Universität Fribourg erfahren. Was hat Ihr Interesse daran geweckt?

Michael Fisehaye: Meine Fluchterfahrung, meine Fähigkeiten als Vermittler und mein Studium in Sozialer Arbeit geben mir ein grosses Verantwortungsgefühl dafür, Menschen zusammenbringen zu wollen. Das CAS kann mich auf diesem Weg sehr bereichern. Meine Erfahrungen sollen zudem für meine Mitstudent*innen ein Gewinn sein.

Was motiviert Sie, diesen CAS in der Schweiz zu absolvieren?

Meine Geschichte als Geflüchteter aus Eritrea hat mir vielfältige Erfahrungen mit dem anfänglichen Gefühl der Fremdheit, der Auseinandersetzung mit inneren und äusseren Konflikten und dem Ankommen in dieser Gesellschaft gebracht. Meine Motivation liegt beim Thema «Anders-sein» und Migration im kirchlichen und gesellschaftlichen Zusammenhang.

Inwiefern haben sich Ihre Erwartungen ans CAS soweit erfüllt?

Besonders interessant fand ich den Beitrag einer Professorin über «neue Perspektiven». Sie schrieb über die Bereicherung, die fremde Kulturen für die europäischen Gesellschaften sein können. Dies hat mir gezeigt, dass ich als Geflüchteter keine Last bin, sondern einen wertvollen Beitrag leisten kann.

Gab es soweit Aha-Erlebnisse?

Bei den Texten, die wir bearbeiten, habe ich immer wieder das Gefühl, dass über meine Biografie geschrieben wird. Das hilft mir, mich mehr als bisher damit auseinanderzusetzen. Durch meine ehrenamtliche Mitarbeit in verschiedenen Organisationen habe ich gelernt, wie wichtig es ist, Begegnungen und Vielfalt zu ermöglichen und Menschen zum Nachdenken zu bringen. In diesem CAS habe ich meine Kompetenzen in der Entwicklung von Konfliktlösungs- und Antirassismusstrategien entdeckt.  

 

Pater Oliver Potschien, 50,

leitet eine Pfarrei in Duisburg und das sozialpastorale Zentrum «Petershof» in Duisburg-Marxloh, zu dem die «offene Tür» und das Unterwegssein auf der Strasse gehören. Er engagiert sich stark für die Integration und hat diverse Projekte mit jugendlichen Migrant*innen lanciert.

«pfarrblatt»: Sie haben über einen Newsletter vom CAS «Pastoral in den Kontexten menschlicher Mobilität und Migration» der Universität Fribourg erfahren. Was hat Ihr Interesse daran geweckt?

Pater Oliver Potschien: Mich hat die Verknüpfung von Soziologie und Theologie interessiert. Da ich neben Theologie unter anderem auch soziale Arbeit studiert habe, fand ich es spannend, zu gucken, wie sich diese beiden gelegentlich unterschiedlichen Blickwinkel treffen. Beides ist bei der sozialpastoralen Arbeit im «Petershof» von Bedeutung. Unsere Angebote orientieren sich an dem, was die Menschen konkret brauchen. Wir sind daher auch viel auf der Strasse unterwegs, um mit den Leuten zu sprechen und zu sehen, wo Hilfe gebraucht wird.

Was motiviert Sie, diesen CAS in der Schweiz zu absolvieren?

Die Schweiz erlebe ich derzeit nur virtuell. Zunächst hatte ich etwas Sorge hinsichtlich der Sprache. Im Studium habe ich so alltagstaugliche Sprachen wie Latein, Griechisch und Hebräisch gelernt, so dass ich befürchtet habe, dass es für mich «zu Französisch» wird, aber mit Deutsch und Englisch klappt es ganz gut.

Inwiefern haben sich Ihre Erwartungen ans CAS soweit erfüllt?

Da wir erst das Einstiegsmodul absolviert haben, ist es für eine Bewertung noch etwas früh. So ein virtuelles Studium ist völlig anders als ein unmittelbarer Kontakt zwischen Lehrenden und Mitstudierenden – das kann ein Zoom-Meeting nicht ersetzen, das fehlt mir etwas. Wir haben bisher durchaus spannende Themenfelder erarbeitet, bei denen sich ein persönlicher Austausch sicher gelohnt hätte.

Gab es soweit Aha-Erlebnisse?

Eine besondere Erfahrung war für mich die Wiederentdeckung meiner eigenen Familiengeschichte im Zusammenhang mit derzeitigen Migrationsbewegungen. Auch meine Vorfahren haben sich irgendwann aufgemacht, um im Ruhrgebiet Arbeit zu suchen, manchmal aus Abenteuerlust, manchmal auch aus schierer Not. Oder sie sind vor Krieg und Vertreibung geflüchtet und schliesslich hier gelandet. Diese Schicksale meiner eigenen (Ur-)Grosseltern spiegeln die Geschichten der Menschen wider, mit denen ich hier jeden Tag zusammenarbeite. Und das macht es auf eine besondere mich betreffende Weise spannend.  

 

Sanaz Khoilar, 33,

hat iranisch-deutsche Wurzeln. Sie hat zwölf Jahre lang im Iran gelebt und das Gymnasium und ihr Studium der Sozial- und Organisationspädagogik in Deutschland absolviert. Danach arbeitete sie sie im Bistum Trier als Flüchtlingsreferentin und ist seit 2019 im Bereich Flüchtlingsfragen im Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz tätig.

«pfarrblatt»: Wie haben Sie vom CAS «Pastoral in den Kontexten menschlicher Mobilität und Migration» der Universität Fribourg erfahren?

Sanaz Khoilar: Der Bereich Weltkirche und Migration im Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz hat diesen Studiengang mitkonzipiert. Nachdem ich dort als Referentin für Flüchtlingsfragen angefangen hatte, habe ich von dem Studiengang erfahren und in unseren Netzwerken der kirchlichen Flüchtlingshilfe sehr dafür geworben. Ich wollte auch mir die Chance nicht entgehen lassen, an diesem Studiengang teilzunehmen.

Was hat Ihr Interesse daran geweckt?

Aufgrund meines Migrationshintergrunds liegen mir die Themen Migration und Flucht besonders am Herzen. In meinem Studium der Sozial- und Organisationspädagogik in Hildesheim habe ich mich diesen Themen intensiver gewidmet. Während meiner bisherigen Berufstätigkeit im Bistum Trier und im Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz habe ich bereits Einblicke in die biblisch-theologischen Begründungszusammenhänge der kirchlichen Flüchtlingshilfe bekommen. Dabei fasziniert mich zunehmend, wie die Theologie meine im Studium erworbenen Kenntnisse widerspiegelt. Dieser Erfahrung will ich mit dem CAS gezielter nachgehen.

Was motiviert Sie, diesen CAS in der Schweiz zu absolvieren?

Ich sehe das CAS als eine Möglichkeit der persönlichen und auch beruflichen Entfaltung. Das Onlineformat des CAS ist mir sehr wichtig, denn ich absolviere es berufsbegleitend. Sofern ich weiss, gibt es ein solches Qualifizierungsangebot nur in der Schweiz. Es ist sehr angenehm, die Module selbstständig und im eigenen Tempo bearbeiten zu können.

Inwiefern haben sich Ihre Erwartungen ans CAS soweit erfüllt?

Wir haben bisher die religionssoziologischen und theologischen Module bearbeitet. Als Nichttheologin waren die theologischen Texte nicht immer leicht für mich, aber genau das hat mich motiviert, die Texte tiefer zu durchdringen. Dabei passiert genau das, was ich mir von einem Studium erwarte: Ich lerne in einer mir neuen Fachrichtung auf bekannte Themen zu blicken. Dadurch erkenne ich neue Facetten von Flucht und Migration sowie deren Bedeutung für Glauben, Kirche und Gesellschaft, die mich inspirieren und bestärken.

Gab es soweit Aha-Erlebnisse?

Davon gab es bis jetzt viele. Zu den Wichtigsten gehört für mich die Konkretisierung der Chancen von Migration, beginnend mit den Möglichkeiten, die Migration für die biblischen Protagonisten eröffnet, bis hin zu jenen, die wir heute nutzen könnten. Dabei ist es wichtig, die Migrant*innen und ihre Sicht auf die Migration miteinzubeziehen. Das mag auch mal herausfordernd sein, weil sie manches vielleicht anders sehen und deuten. Diese Unterschiedlichkeit ist wichtig, denn sie eröffnet Chancen, die sonst verborgen bleiben.

 

 


Certificate of Advanced Studies (CAS) «Pastoral in den Kontexten menschlicher Mobilität und Migration»

Ziel: Chancen und Risiken von Mobilität und Migration für neue Prozesse und Realitäten reflektieren und ein entsprechendes Selbst- und Organisationsmanagement generieren Inhalte: Religions- und Migrationssoziologie, Migrationsrecht, Selbst- und Organisationsmanagement, praktische Theologie, interkulturelle und interreligiöse (Religions-)Pädagogik und Liturgie
Dauer: vier Semester
Nächster Studienstart: März 2021
Anmeldeschluss: 15. Februar 2021

 

 

 

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