Lernbegierig: Unbegleitete minderjährige Asylsuchende (UMA) bei einer Prüfung in Davos. Foto: Keystone, Gian Ehrenzeller

Minderjährig, unbegleitet - und unbetreut?

Es geht um die Zukunft von Menschen: Warum der Asylsozialhilfekredit kein hinausgeworfenes Geld ist.

Es geht nicht nur ums Geld, wenn das Berner Stimmvolk am 21. Mai über den Kredit zur Asylsozialhilfe abstimmt. Es geht vor allem um die Zukunft von jungen Menschen.

Der Jubel wirkt etwas übertrieben. Der Spieler, der das entscheidende Tor erzielt hat, rennt quer über das Feld, die Hände zu Fäusten geballt, das Trikot über den Kopf gestülpt. Wir befinden uns nicht im Stade de Suisse, sondern bei einem Plauschturnier unter Jugendlichen: Ahmad, der 16-jährige Torschütze, ist einer von rund 450 unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden, die im Kanton Bern leben. In der Verwaltungssprache heissen diese Kinder und Jugendlichen kurz und bündig UMA.

Ahmad ist aus Afghanistan geflüchtet. Seine Odyssee führte über den Iran in die Türkei. Von dort ging es weiter nach Griechenland. Und dann, über die Balkanroute, in die Schweiz. Die Reise hat über zwei Jahre gedauert – Ahmad verdiente sich das Geld für die jeweils nächste Etappe als Schuster, Erntehelfer und Bäcker. Nun ist er hier, lebt zusammen mit Gleichaltrigen in einem Wohnheim, lernt Deutsch und büffelt Mathematik. Er träumt davon, einen Beruf zu erlernen, möglichst etwas Handwerkliches, Schreiner vielleicht. Bis es soweit ist, muss er noch viel lernen, das weiss Ahmad. Er will alles richtig machen, denn: «Wenn der Grundstein schief liegt, kann die Mauer nicht gerade werden.» So heisst ein afghanisches Sprichwort.

Im Kanton Bern werden die UMA nicht mit den übrigen Asylsuchenden untergebracht, sondern gesondert betreut und gefördert. Wer jünger als 14 Jahre ist, findet bei einer Pflegefamilie ein neues Zuhause. Die Jugendlichen ab 14 Jahren werden durch eine spezialisierte Organisation sozialpädagogisch begleitet, schulisch gefördert und in ihrer Entwicklung unterstützt. Das hat der Grosse Rat des Kantons Bern 2014 entschieden, und dafür hat er die notwendigen Mittel bereitgestellt. «Weil es gerade bei den UMA sehr wichtig ist, dass wir sie vom ersten Tag an betreuen», betont Christoph Grimm von den Grünliberalen. Die Kantone bekommen vom Bund eine Pauschalabgeltung für den Asylbereich. Dabei wird nicht zwischen den Aufwendungen für Erwachsene, Jugendliche und Kinder unterschieden. So müssen die Kantone Jahr für Jahr zusätzliche Mittel für die Betreuung der UMA aufwenden. Im Kanton Bern wurden diese Nachkredite bislang über das politische Spektrum hinweg mitgetragen. Nicht aber der vierjährige Verpflichtungskredit, den der Grosse Rat in der Septembersession 2016 mit 90 zu 46 Stimmen gutgeheissen hat. «Dieses Fuder geht definitiv über alles hinaus», sagt der Lastwagenchauffeur und Grossrat Thoms Knutti – die SVP ergriff das Referendum.

Für das Referendumskomitee ist die Betreuung der UMA eine Luxuslösung. Das Argument: Je besser die Betreuung, desto mehr junge Asylsuchende kommen in die Schweiz. Das Angebot bestimme die Nachfrage. Das Referendumskomitee glaubt, dass diese jungen Menschen in ihrem Herkunftsland längst auf eigenen Beinen stünden – und hier in der Schweiz überversorgt werden. Sabina Geissbühler von der SVP meint gar, Parallelen zur jüngeren Schweizer Vergangenheit zu erkennen: «Es fällt mir auf, dass die gleichen Personen, die das Verdingkindwesen in der Schweiz kritisieren, nun dieses Verdingkindwesen von internationalen Schlepperbanden unterstützen.» Wie eine angemessene Betreuung und Unterbringung aussieht, können die Gegner der Kreditvorlage nicht sagen. Auch ihnen ist klar: Das Kindswohl verbietet es, minderjährige Asylsuchende, die ohne Eltern in die Schweiz eingereist sind, in den regulären Asylstrukturen unterzubringen. Die Kinderrechtskonvention, die Kindesschutzbestimmungen des Zivilgesetzbuches gelten für alle Kinder und Jugendlichen – unabhängig von deren Ethnie, vom Herkunftsland und vom Aufenthaltsstatus. Würden die UMA in Kollektivunterkünften untergebracht, so hätte das eine Flut von Gefährdungsmeldungen, KESB-Abklärungen und Platzierungen in kantonalen Schulheimen zur Folge. Das wäre um ein Vielfaches teurer als die heute praktizierte Lösung.

Doch ganz unabhängig von den Kosten: Es geht bei der Abstimmung um mehr als um das Geld. Es geht darum, Kinder und Jugendlichen, die voraussichtlich in der Schweiz bleiben werden, eine Zukunft zu ermöglichen. «Dazu gehört auch eine schulische Ausbildung, hier müssen wir ansetzen und die Integration fördern», wie Marianne Schenk von der BDP sagt. Denn wenn wir kein neues Verdingkindwesen wollen, müssen wir den jungen Menschen die Chance bieten, ihr künftiges Leben selbstbestimmt und unabhängig zu gestalten. Ein Ja am 21. Mai trägt dazu bei.

Jörg Eigenmann, Sozialarbeiter FH

Zur kantonalen Abstimmung am 21. Mai 2017
458 unbegleitete Minderjährige, sogenannte UMA, wohnen im Kanton Bern. Die Kinder im Alter zwischen 1 und 17 Jahren leben ohne Eltern in der Schweiz. Sie haben teils einschneidende Kriegs-, Flucht- und Verlusterfahrungen gemacht und brauchen kindergerechte Begleitung und besonderen Schutz. Gemäss der internationalen Kinderrechtskonvention bietet der Kanton Bern eine spezialisierte Unterbringung und Betreuung. Diese ist kostengünstiger als andere Lösungen und fachlich sinnvoll.
Die Bundespauschale reicht nicht aus für eine kindergerechte Betreuung, deshalb braucht es befristet auf 2016 bis 2019 einen Kredit von 105 Mio. Franken. Der Kredit wird unterstützt von 90 Grossrätinnen und Grossräten sowie der gesamten Berner Kantonsregierung von FDP, BDP, SP, Grünen und SVP. «Diese Menschen sind besonders verletzlich», erläutert Tania Oliveira, Leiterin der Fachstelle Sozialarbeit der Katholischen Kirche Region Bern. «Es ist unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass diese Kinder in einem geschützten Umfeld aufwachsen und sich entfalten können. Alle Kinder haben das Recht darauf. Der Kredit für die Asylhilfe ermöglicht eine altersgerechte Betreuung und Förderung von unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden.»
Auch der Synodalrat der Römisch-katholischen Landeskirche des Kantons Bern unterstützt das Anliegen. Er empfiehlt deshalb, bei der Abstimmung vom 21. Mai 2017 für einen befristeten Kredit für Asylsozialhilfe 2016 bis 2019 ein Ja einzulegen.
Karl Johannes Rechsteiner/jm

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