«Maternal», Schwester Paola (Lidiya Liebermann) im Film von Maura Delpero | © Locarno Film Festival

Mutterliebe und starke Frauen am Filmfestival Locarno

Ein Film über universale Mutterliebe erhält von der Ökumenischen Jury in Locarno den Hauptpreis. Viele Filme setzten sich mit Religion auseinander.

Am 17. August ging das 72. Locarno Filmfestival zu Ende. Den Goldenen Leoparden gewann der portugiesische Film «Vitalina Varela». «Maternal», ein Film über die Mutterliebe in allen Facetten, gewinnt den Preis der Ökumenischen Jury. In diesem wie in auffallend vielen anderen Filmen war Religion dieses Jahr Thema.

Von Charles Martig, kath.ch

Am 72. Locarno Festival war auffällig, dass Religion in allen Sektionen des Festivals eine Rolle spielte. Mit «Vitalina Varela» gewinnt ein portugiesischer Film den Goldenen Leoparden, der aus der tiefen Verzweiflung einer Frau ein religiöses Drama entwickelt.

Es gibt Filme, die aus einer tiefen Verzweiflung heraus ihre Geschichte erzählen und ihre eigentliche Form entwickeln. Aus dem Leiden an der Welt und den ungerechten Verhältnissen entsteht beim Zuschauen das starke Bedürfnis, einen religiösen Ausweg zu suchen. Pedro da Costa zeigt in seinem Film «Vitalina Varela» eine solche leidende Figur. Vitalina ist eine Frau aus den Kapverden, die lange Jahrzehnte darauf gewartet hat, nach Lissabon zu fliegen und dort ihren Mann zu treffen. Sie kommt jedoch drei Tage zu spät und die Beerdigung hat bereits stattgefunden.

In einem ausdrucksstarken Spiel von dunklen Szenen und schön ausgeleuchteten Gesichtern erleben die Zuschauerinnen und Zuschauer eine Form, die sich dem vollständigen Stillstand annähert. Vitalina Varela ist sowohl der Name der echten Darstellerin als auch der Titel des Films. Es ist ihre eigene Geschichte, die sie spielt. So bekommt der Film eine authentische Kraft. In ihrer Verzweiflung bleibt Vitalina stark in ihrem würdevollen Ausdruck.

Gestalterische Qualität - Tiefe der Erzählung

Die gestalterische Qualität des Films mit seinem ausdrucksstarken «Chiaroschuro» (Hell-Dunkel-Kontraste, d. Red.) deckt sich mit der menschlichen Tiefe der Erzählung. Das haben sowohl die Ökumenische Jury als auch die Internationale Jury erkannt und entsprechend mit Auszeichnungen am Filmfestival gewürdigt: dem Goldenen Leoparden für den besten Film, der Auszeichnung für die beste Hauptdarstellerin und eine lobende Erwähnung der Ökumenischen Jury.

«Maternal» – Madonna mit Kind

Den Preis der Ökumenische Jury erhielt dieses Jahr der Film «Maternal», der die Mutterliebe in den Mittelpunkt stellt. Er wirft die Frage auf, ob die Heilige Familie ein Modell, ein Symbol oder ein verlorenes Ideal ist.

In einem argentinischen Kloster betreibt ein Frauenorden aus Italien ein Heim für alleinerziehende Mütter mit Kindern. Die beiden jungen Frauen Lu und Fati sind durch ihre Schwangerschaft plötzlich mit dem Ernst des Lebens konfrontiert, obwohl sie noch Teenager sind. Die Ordensfrauen unterstützen sie mit allem, was sie brauchen. Vor allem sind es die kleinen Kinder, die betreut werden müssen.

Mutterliebe einer Ordensfrau

Die junge Ordensfrau Paola trifft zu Beginn von «Maternal» im Kloster ein. Sie steht kurz vor ihren ewigen Gelübden. Angesichts der sozial fragilen Situation der Frauen im Heim engagiert sie sich stark für die Kinder. Als die Mutter eines Mädchens verschwindet, nimmt sie sich des Kindes an. Schwester Paolo lebt ihre Mutterliebe in einer Form, die auf den ersten Blick erstaunt.

Selten hat ein Film das Thema der Mutterliebe so differenziert durchgespielt. Der Film zeigt die Liebe der Klosterfrau anstelle der leiblichen Mutter, und als Zuschauer assoziiert man in einigen Szenen das Bild der «Madonna mit Kind». Sowohl die Klosterfrauen wie die Kinder im Heim sprechen ausserdem über die «heilige Familie».

Hohe ästhetische Kompetenz

Die Bedürftigkeit und Zerbrechlichkeit der jungen Mütter ist erschütternd. Die bedingungslose Liebe von Schwester Paola wirkt überraschend vielschichtig. Damit gelingt es der jungen Regisseurin Maura Delpero die universale Bedeutung von Mutterliebe sowohl spirituell als auch leibhaftig konkret durchzuspielen. Der liebende Blick der Filmemacherin auf dieses religiöse und soziale Drama ist in jeder Einstellung spürbar. Die Ökumenische Jury von Locarno hält in ihrer Begründung fest: «Der mit hoher ästhetischer Kompetenz gestaltete Film wirft dringende universelle moralische Fragen auf.»

Religiöser Extremismus versus weltoffene Horizonte

Mit «Baghdad in my Shadow» präsentierte der Schweizer Regisseur Samir seinen neuen Spielfilm ausserhalb des Wettbewerbs. Er erzählt von der irakischen Exilgemeinde in London: eine sympathische und weltoffene Truppe von Widerstandskämpfern, Poeten, Kommunisten und Homosexuellen. Sie mussten vor dem Regime und der Folter fliehen. Diese Gemeinschaft trifft sich im Café «Abu Nawas». Doch schon bald holt sie die Geschichte ein: die dunkle Vergangenheit des Dichters Taufiq tritt ebenso ans Tageslicht wie die Verstrickungen von Amal, einer jungen Architektin, die jetzt als Barfrau im Café arbeitet. Nasser, der Neffe von Taufiq, gerät in den Einflussbereich eines radikalen Imams.

Die Spannungen in der Exil-Gemeinschaft nehmen zu, bis sich die Ereignisse überstürzen und gewaltsam entladen. Samir vermittelt mit seinem Spielfilm eine deutliche Botschaft: Gegen religiösen Extremismus und politische Manipulation gilt es Widerstand zu leisten. Insbesondere die irakische Exil-Gemeinde steht für einen offene, liberale Gesellschaft.

Imam im Konflikt

Auch in Afrika ist das Thema des religiösen Extremismus stark präsent. Im Film des der senegalesischen Regisseurs Mamadou Dia "Baamum Nafi" (Nafi’s Father) ist der Konflikt zwischen radikalem und weltoffenem Islam Hauptthema. Er erzählt von einem Imam, der sein Dorf vor dem Eindringen islamistischer Kräfte schützen möchte. Dabei wird die Ohnmacht des Imams, der seine Tochter Nafi weltoffen erzogen hat, deutlich. Der Film erhielt in Locarno den Preis für den besten Erstlingsfilm.

Islam in der Schweiz

Aus Schweizer Sicht setzt sich David Vogel in «Shalom Allah» mit dem Islam auseinander. Er geht der Frage nach, was Schweizerinnen und Schweizer dazu bewegt, zum Islam zu konvertieren. Daraus ist ein ehrliches und differenziertes Porträt von Muslimen entstanden: Es sind Menschen auf der religiösen Suche, die einen Halt im Islam finden.


Ökumenische Jury
Die Ökumenische Jury zeichnete «Maternal» von Maura Delpero mit ihrem Preis aus, der mit 20.000 Franken dotiert ist. Das Preisgeld wird von den Reformierten Kirchen und der Katholischen Kirche für den Verleih des Filmes gestiftet. Eine Lobende Erwähnung vergab die Ökumenische Jury an «Vitalina Valera» von Pedro Costa aus Portugal. Sein Film war der grosse Gewinner des Festivals. Er erhielt von der Internationalen Festivaljury den Goldenen Leoparden.

Ökumenische Jurys gibt es inzwischen auf über 30 Filmfestivals, sie werden konfessionell paritätisch und divers besetzt. In Locarno bestand die ökumenische Jury aus Tomas Axelson (Schweden), Thomas Kroll (Deutschland), Mariola Marczak (Polen) und Gabriella Rácsok (Ungarn).

Mit dem Preis der Ökumenischen Jury werden generell Filme ausgezeichnet, die wichtige soziale, ethische und interreligiöse Themen aufnehmen. Auf der Webseite des Filmfestivals Locarno heisst es dazu: «Die Ökumenische Jury verleiht seit 1973 ihren Preis an Filmschaffende, denen es gelingt, ihr Publikum für religiöse, menschliche oder soziale Werte zu sensibilisieren. Sie befragt die Visionen der Filmschaffenden nach einem Sinn für Gerechtigkeit, Frieden und Respekt sowie nach spirituellen Dimensionen.»

Verschiedene Medienverbände berufen die Mitglieder für die Jurys. Für die katholische Kirche ist das der Katholische Weltverband für Kommunikation «Signis», für die reformierte Kirche ist es Interfilm. Diese Organisation hat auch einen Ableger in der Schweiz mit Sitz in Bern.

Andreas Krummenacher

Link:
Medienmitteilung der Interfilm zur Preisvergabe der ökumenischen Jury in Locarno 2019

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