Von 1654 datiertes Pentagramm und christliches Trigramm IHS. Im Volksglauben vermischt sich das von den Ahnen übernommene Erfahrungswissen mit magischen Elementen und christlichem Glauben zu einem neuen Ganzen.

Mythen, Riten und das Wirken Gottes

Kurt Lussi erklärt, wie sich der Mensch das Unfassbare fassbar, das Unerklärliche erklärbar zu machn versucht

Sagen, Mythen und Legenden machen das Unfassbare fassbar, das Unerklärliche erklärbar. Mit magisch-religiösen Handlungen versucht der Mensch, sich gegen die vom Unfassbaren ausgehenden Bedrohungen zu schützen und gleichzeitig die höheren Mächte zum Eingreifen zu bewegen.

Text und Fotos: Kurt Lussi

Wir waren zu dritt und hatten den Auftrag, auf einerAlp eine Funkstation einzurichten. Der Älpler, in dessen Hütte wir unterkamen, begegnete uns anfänglich mit einer befremdlichen, ja fast scheuen Zurückhaltung. Sie löste sich erst, als wir nach getaner Arbeit zusammen am Tisch sassen. Zwei Monate, hub er an, sei er schon hier, um die Weidezäune für den kommenden Alpsommer herzurichten. «Wenn du die ganze Zeit keine Menschenseele siehst, wirst du hellhörig», sagte er. «Dann nimmst du nachts Dinge wahr, die dir den Schlaf rauben.» Er hatte sich in Rage geredet. Ihm war keinesfalls entgangen, dass ich beim Vorbeigehen einen Blick durch die offene Kammertüre geworfen hatte und mir dabei das alte Klappmesser aufgefallen war, das über der Bettstatt in der Wand stak. Das zerwühlte Bett, das mit der Schneide nach oben im Täfer steckende Messer und die Andeutungen des Älplers, mit denen er auf das Unheimliche hinwies ohne es beim Namen zu nennen: Der Mann hatte offenbar etwas mit dem Toggeli, einem Dämon, der sich nachts auf die Schlafenden legt und sie drückt und würgt, bis sie mit einem Schrei und oft in Schweiss gebadet aufwachen. Mit einem Messer oder einem unter das Bett gelegten Degen wehrt man es ab. Wenn es dann nachts anschleicht, verletzt es sich und krebst zurück. So will es der Volksglaube.

Alemannische Wurzeln

Schräg über dem Älpler befand sich der Herrgottswinkel auf dem ein Kruzifix stand. Um 34dieses gruppiert waren eine Statue des Wetterheiligen Antonius, eine aus Holz geschnitzte Figur des Landesheiligen Bruder Klaus, ein Schnapsglas mit ein paar Blumen und verblichene Bilder, die wohl verstorbene Verwandte zeigten. Toggeli und Herrgottswinkel. Heidnisches und Christliches. Pier Hänni hat es in seinem Beitrag zum hl. Beatus bereits angedeutet. In der Verehrung dieses Heiligen vermischt sich Christliches und Unchristliches zu einem neuen Ganzen – dem Volksglauben.

Der Volksglaube. Er umfasst die gesamte religiöse Erfahrung des Menschen und richtet sich daher nur mit bestimmten Einschränkungen nach den Dogmen und Riten der Kirche. Umso mehr ist er offen gegenüber naturmagischen Überlieferungen, astrologischem Gedankengut, kabbalistischen Theorien sowie ausser- und vorchristlichen Glaubensformen, unter denen – je nach Gegend – die alemannischen Vorstellungen einer von Geistern und Dämonen beseelten Natur einen besonderen Stellenwert haben. Bei uns hat Letzteres mit der Siedlungsgeschichte zu tun. Nach dem Abzug der Römer wurde fast der gesamte nördliche Alpenraum von den nachrückenden Alemannen besetzt. Wachgehalten wird die Erinnerung daran durch Mythen und Legenden. So sind der Überlieferung nach die Berner aus Friesland eingewandert. In gewissen Nächten, wird erzählt, steigen die Toten aus ihren Gräbern, scharen sich zusammen und reisen an die Gestade der Nordsee. In der gleichen Nacht kehren sie, nachdem sie die Brandung des Nordmeeres vernommen und ihre Sehnsucht nach der alten Heimat gestillt haben, in ihre jahrhundertealten Gräber am Fuss der Alpen zurück.

Die Seelen der Toten

Was der Friesenzug im Berner Oberland, ist der Gratzug des Wallis und der Türstzug der Innerschweiz. Mit Letzterem bezeichnet man das Heer der namenlosen Toten, das in bestimmten Nächten ins Jenseits reist. Wie der Friesenzug zerschmettert der geisterhafte Zug alles, was sich ihm in den Weg stellt. In dieser Vorstellung verbirgt sich die in vielen Kulturen verbreitete Auffassung, wonach sich die Seele als Windhauch bemerkbar macht. Wenn der Mensch stirbt, tut er nicht seinen letzten Atemzug, sondern er haucht sein Leben aus, indem seine Seele als eine von den Lebenden wahrnehmbare Luftbewegung aus dem Körper des Toten tritt. Belegt wird diese Vorstellung von Menschen, die Sterbende begleiten. Aus Erfahrung wissen sie, dass der letzte Atemzug des Menschen nicht ein Ein-, sondern ein letztmaliges Ausatmen ist.

Dieses Wissen finden wir belegt in Blanca BurrisBeitrag «Makabre Hoffnung auf den Himmel». Nach dem von ihr beschriebenen Brauch wurden die Leiber früh- und totgeborener Kinder über Kerzen und glühenden Kohlen erwärmt und dann getauft. In der kalten Kirche entwich die erwärmte Luft aus dem Körper und bewegte eine über das Mündchen gehaltene Daunenfeder. Dies deutete man als Zeichen dafür, dass die durch die Taufe erlöste Seele nun endgültig als Windhauch ausgetreten war und ihre Reise zum Schöpfer angetreten hatte.

Die Vorstellung von der Existenz der Seele als Windhauch finden wir nicht nur in der alemannischen Mythologie, sondern auch im Alten Testament. Das Atmen ist ein Zeichen des Lebens. Im Buch Genesis wird der Atem mit dem Geist des Menschen in Verbindung gebracht (Gen 45, 27). Das hebräische Wort für «Geist» bedeutete ursprünglich «Luft in Bewegung», «Atem» oder «Wind». Überhaupt fasste man in alttestamentlicher Zeit den Wind als Atem eines mächtigen Wesens auf, wie denn auch an verschiedenen Stellen des Alten Testaments der Wind als das Schnauben des Zornhauchs Jahwes gedeutet wird (Ex 15, 8; 2Sam 22, 16). Hier schliesst sich der Kreis. Friesenzug, Gratzug und Türst: Das sind die Toten, die – angeführt von einer dämonischen Gestalt – als heftige Winde ins Jenseits reisen.

Schutz und Bann

Nebst den unerlösten Toten, die der Mensch unter bestimmten Umständen zu fürchten hat, sind es vor allem Naturgeister und Dämonen, die den Lebenden gefährlich werden. Gegen die Mächte der Finsternis schützt man sich mit magischen Ritualen und Vorkehrungen, wie sie Benno Furrer in seinem Beitrag beschreibt. Über alledem steht jedoch das Heilige oder besser: das Göttliche. Als ich im Urnerland noch klettern ging, übernachtete ich regelmässig bei einem Bergbauern. Sein Heimet war umstellt von Statuen und Bildern des Wetterheiligen Antonius. Darauf angesprochen deutete er auf einen heute überwachsenen Walm, der oberhalb seines Heimwesens gut zu erkennen ist. In einer Augustnacht, erzählte er, sei nach sintflutartigen Regenfällen der ganze Hang mitsamt dem Wald und den Felsblöcken ins Rutschen gekommen. Ein 35Entkommenwar nicht möglich. «Wir stürmten nach draussen, beteten, hofften», beteuerte er. Wie von Geisterhand gestoppt, kam der Rutsch wenige Dutzend Meter oberhalb des Hauses zum Stillstand. Für ihn, den Bergler, war klar: Der hl. Antonius, auf den Alpen zuständig für die Abwehr von Unwettern und den daraus resultierenden Folgen, war persönlich vom Himmel gestiegen und hatte den Elementen durch seine ihm von Gott verliehene Kraft Einhalt geboten.

In diesem Erlebnis kommt das Urvertrauen des Bauern zum dreieinigen Gott und seinen Heiligen zum Ausdruck. In diesem magisch-religiösen Denken haben Dogmen, Pfarrherren und Bischöfe mit ihren Lehren nur am Rande Platz. Es ist das direkte Eingreifen der höheren Mächte und den damit verbundenen Erfahrungen, die für Menschen wie ihn zählen. Dies kommt auch in den nicht despektierlich gemeinten, sondern Urvertrauen belegenden Worten des Bergbauern zum Ausdruck. Angesprochen auf die Häufigkeit seiner Kirchenbesuche oder das Wirken des unten im Tal residierenden Pfarrers pflegte er zu sagen: «Die Predigt ist für die Dummen. Die Gescheiten können selber denken.»

 

 

 

 

Der Autor Kurt Lussi war bis zu seiner Pensionierung in 2019 Kurator für Volkskunde am Historischen Museum Luzern.

 

 

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