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Nach über 2000 Jahren wird es Weihnachten

Dieses Jahr ganz anders

Der Weihnachtsgedanke hat sich seit über zweitausend Jahren nicht verändert. Die Art, wie gefeiert wird, indes schon. Ein mikroskopisch kleines Lebewesen bringt die Menschheit wieder an den Ursprung von Weihnachten zurück.

Autorin: Sofia Lorenzini-Brantschen, Gymnasiallehrerin und Theologin

Weihnachtskugeln und den Christbaumständer kauft man Mitte Juli im Super-Sale des Online-Grosshändlers zum Spottpreis. Ab Anfang Oktober plärrt beim Shoppingerlebnis der Discobeat mit Weihnachtsklängen aus den Lautsprechern. Mitte Oktober folgen die Grossverteiler mit ihren Pre-Black-Friday-Adventskalender-Aktionen, bis Ende Monat ist das ganze Back-dir-deine-Weihnachtsgüetzi-mit-Fertigteig-zuhause-Sortiment im Kühlregal. Post und Kurierdienstleister schrauben den Aushilfspersonalbestand in die Höhe und der Verkauf von Vor-Advents-Ruheoase-Wellnesspackages zieht an. Kommerz hier und da, Hektik hüben wie drüben, schnell noch ein Last-Minute-Besinnungs-Memo via Whatsapp verschicken und auf Social Media posten: Freuet Euch, es ist heilige Zeit.

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Wir schreiben Mitte Dezember. Seit Februar ist unser Aktionsradius immer wieder beschnitten worden. Wer 65 Jahre oder älter war, durfte zeitweilig nicht aus dem Haus. Menschen in Wohnformen für Ältere durften nicht besucht werden. Grosseltern als Kinderbetreuung waren ein absolutes No-Go. Dann kam der Sommer, und mit ihm trotz geschlossener Grenzen ein Funke Normalität. Einige Verwegene nahmen im Herbst sogar allen Mut zusammen und verbrachten ein paar Tage im Ausland – vielleicht am Meer – und man begann, ganz vorsichtig wieder Zukunftspläne zu schmieden.

Zukunftspläne in Ehren. Doch die ausgefeiltesten Gedankenkonstrukte und Träumereien sind mit der weltweiten Pandemie, dem Herannahen der zweiten Welle und dem schrittweisen Verkriechen in die eigenen Wände Makulatur geworden. Wandlung sieht anders aus. Ach, wie hatten wir uns gefreut, wieder Menschen zu begegnen, unsere Lieben in der Adventszeit in die Arme zu schliessen und einander mit allen Sinnen zu spüren. Jetzt stehen wir da, trauen uns kaum zum Haus heraus, sind zu Homeoffice verdonnert, arbeiten im Gesundheitswesen am Anschlag oder müssen damit umgehen, dass unser Wissen und unsere Arbeitskraft nicht mehr gebraucht wird. Dazu tragen wir Masken, die mindestens Nase und Mund bedecken und uns weder die Mimik unseres entfernten Gegenübers erkennen noch seine Ausstrahlung richtig spüren lassen.

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Macht nichts!

Naja, «nichts» ist vielleicht doch etwas übertrieben. Doch seien wir ehrlich: Das winzig kleine Virus, das in den abgelaufenen neun Monaten so viel Leid über unsere Welt gebracht und so viele Schicksalsschläge verantwortet hat, macht uns als Menschen neue Türen auf. Die laute und hektische Welt, die die heilige jeweils zur «eiligen Zeit» verkommen lässt, ist leise und langsam geworden. Sehen wir’s doch einmal anders: Versetzen wir uns von der Opfer- in die Gestaltenden-Rolle. Die «stille Nacht» zwingt uns dieses Jahr, einmal wirklich still zu sein! Wir haben immer noch unsere Ohren. Unsere Augen. Und alle ein grosses Herz. Auf dieses gilt es jetzt zu hören. Auf das Eigene ebenso wie das des entfernten Gegenübers. Lassen wir die Stille hinter unseren Masken zu. Werden und bleiben wir ruhig. Für einmal haben wir die Chance, den weihnächtlichen Gedanken aktiv zu schweigen. Hören wir zu. Lauschen wir. Schauen wir zu und sehen wir an. Wie klingen all die Menschen rund um uns, die wir sonst kaum wahrnehmen? Was haben sie uns zu zeigen? Was wollen sie uns sagen? Auf was kann ich ganz bewusst reagieren? Wie kann ich achtsam Interesse zeigen, Anteil nehmen, auf Augenhöhe einen respektvollen Austausch pflegen und nicht bloss husch husch möglichst rasch und abschliessend antworten und weitergehen?

Und während wir unser taktiles Sensorium nicht gebrauchen dürfen, können wir Menschen uns immer noch auf unsere anderen Sinne abstützen. Vielleicht gelingt es uns gerade darum, uns «berührungslos» mit viel Fingerspitzengefühl «berühren» zu lassen und zu erkennen, was genau an Weihnachten passiert ist: Gott ist durch Jesus Mensch geworden und in unsere Mitte, unseren Alltag gekommen.

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Dass wir dank dem Virus dieses Menschwerden endlich wieder neu entdecken dürfen, ist für uns Menschen Herausforderung und Chance zugleich: die Herausforderung, selber nicht zu vereinsamen und die Menschen um uns nicht in der Einsamkeit allein zu lassen. Die Chance aber nämlich auch, dieses Jahr genau das Weihnachten zu erleben, das es seit über 2000 Jahren nicht mehr gegeben hat. Stille Nacht, heilige Nacht. Die Nacht, in der Gott Mensch geworden ist. Durch uns. Durch unser leises, achtsames Sein: für den Anderen. Für mich. Und ganz fest für Dich. Sinnliche Weihnachten!

 

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