Antisemiten unter sich: Ulrich Fleischhauer, Leiter des antisemitischen «Weltdienst» in Erfurt, Mitte,
mit Zigarette; Dr. Hans Ruef, Verteidiger der Angeklagten, Mitte, mit Hut; und seine Frau, links, sowie weitere Sympathisanten vor dem Gerichtsgebäude in Bern. Foto: Keystone, Photopress-Archiv, Str.

«Nichts als ein lächerlicher Unsinn»

150 Jahre Emanzipation der Schweizer Juden (4)

Judenfeindliche Weltverschwörungstheorien standen in den Zwanziger und Dreissiger Jahren hoch im Kurs. Dies zeigte sich an den Auflagen des Büchleins «die Protokolle der Weisen von Zion». Bei einem von jüdischer Seite angestrengten Prozess in Bern standen sich 1934/35 Nationalsozialismus und Judentum schlechthin gegenüber. In der kirchlichen Presse war der Prozess direkt kein Thema.

In Deutschland war Hitler gerade zehn Wochen an der Macht, als er den deutschen Juden am 1. April 1933 mit dem «Judenboykott» signalisierte, dass sie kein Teil des «deutschen Volkes» seien, sondern vielmehr «Ungeziefer», das es auszurotten galt. Auch in der Schweiz hatten Ableger der Nationalsozialisten und ähnlich gesinnte Frontenbewegungen ihre Ortsgruppen aufgebaut. Kirchliche Kreise lehnten die Rassentheorie und das Programm zur Ausrottung in der Regel ab, doch eine alte, religiös motivierte judenfeindliche Haltung blieb bestehen und richtete sich gegen den angeblich wachsenden Einfluss säkular denkender Kapitalisten und Sozialisten – welche angeblich jüdische Erfindungen waren.
Die jüdischen Gemeinden in der Schweiz hatten diese Entwicklungen in den vergangenen Jahren zwar mit Besorgnis beobachtet, sahen sich in der Schweiz jedoch noch nicht ernsthaft gefährdet. Dieser «Judenboykott» hingegen veranlasste sie, regionale Abwehrkomitees zu bilden, welche antisemitische Aktionen und Publikationen im Auge behalten sollten. Bereits Mitte Juni sahen sich die Berner veranlasst, juristisch vorzugehen. Im Casino hatte die «Nationale Front» am Rande einer Veranstaltung das Büchlein «Die Protokolle der Weisen von Zion» verkauft, das Juden eine Weltverschwörung unterstellte.

Degradierung von Juden zu Bürgern zweiter Klasse

Diese Publikation war an jedem Kiosk erhältlich und ein absoluter Bestseller, auch in kirchlichen Kreisen. So hiess es beispielsweis in der katholischen Schweizerischen Kirchenzeitung: «Herd und Hilfe, Triebkraft und Träger der deutschen, der russischen, der ungarischen Revolution und der begonnenen Weltrevolution ist das Judentum. Wer die ‹zionistischen Protokolle› kennt, findet dies selbstverständlich.» Irgendwelche christliche Bedenken gegen diese antijüdische Atmosphäre und die konkreten Diffamierungen waren mit wenigen Ausnahmen kein Thema.
Der Antijudaismus der vergangenen Jahrhunderte war durch die bürgerliche Gleichstellung von 1866 nicht einfach verschwunden. Diese langjährige, diffuse Haltung hatte sich auch 1893 im Schächtverbot niedergeschlagen. In den letzten Jahrzehnten waren zusätzlich die Rassentheorien dazugekommen, welche die Juden nach den «Christusmördern» nun zur minderwertigen Rasse herabsetzten.

Nicht zu Unrecht befürchtete die jüdische Minderheit, durch solche Hetzschriften zu Menschen zweiter Klasse degradiert und diskriminiert zu werden. Dies veranlasste die jüdische Gemeinde Bern und den Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG) nach dieser Veranstaltung im Casino, nach Paragraphen zu suchen, welche solche Literatur verboten, ohne das Grundrecht der Redefreiheit zu missachten. Mit einemArtikel gegen «Schundliteratur» – gemeint waren eher Porno-Heftchen – schöpften sie Hoffnung und reichten noch im gleichen Monat Klage gegen die Verbreitung dieser «Protokolle» ein. Dies war der Auftakt zu einem spektakulären Prozess im Berner Amthaus, der mit den Verhandlungen im Oktober 1934 und im Mai 1935 für weltweite Schlagzeilen sorgte. Und dies war der Auftakt einer glanzvollen Karriere des Berner Anwalts Georges Brunschvig.

Ein Prozess zwischen Nazis und Juden in Bern

Der Berner Prozess galt als Konfrontation der Judenheit gegen den Nationalsozialismus schlechthin. Zudem sahen die Kläger darin eine Verteidigung der Demokratie und die Gleichwertigkeit aller Bürger. Auf der Anklagebank sassen fünf Männer der «Nationalen Front» und des «Bundes Eidgenössischer Nationalsozialisten », doch wirklich angeklagt war dieses Gift streuende Büchlein, das Hitler als Vorlage für sein Programm «Mein Kampf» diente. Der Herausgeber jener Ausgabe bezeichnete im Nachwort die «Ausscheidung dieses räudigen Geschlechts» als «Ehrenpflicht der gesitteten Nationen», da es schon durch seine Anwesenheit alles verpeste. Bis zu den drei Verhandlungstagen Ende 1934 hatte die jüdische Klägerseite alle Fakten einschliesslich der Expertise beisammen.

Als Anwalt der Klägerseite zerpflückte Georges Brunschvig mit geschickten Befragungen von hochkarätigen Zeugen das Büchlein als Fälschung aus russisch-französischer Küche und belegte, dass diese «Protokolle» nicht an irgendwelchen Sitzungen von Juden entstanden waren. Da es der Seite der Angeklagten nicht gelungen war, einen Experten zu beauftragen, wurde der Prozess erst im Mai 1935 weitergeführt. Der Mann, der dann auftrat, hiess Ulrich Fleischhauer, Chef der Propaganda- Agentur «Weltdienst». In seiner fünftägigen Expertise habe er wie Goebbels geschrien, erinnert sich die letzte noch lebende Zeitzeugin, Odette Brunschvig, die fast 100-jährige Witwe des Anwalts Georges Brunschvig. Und dieser konterte: «Wir kennen die falsche Melodie. Wer den Juden ohne Aufhören und auf allen zugänglichen Wegen als die Bestie in Menschengestalt ausgibt, ist schuldig an dem Blut und an den Tränen, die eine Gewissenlosigkeit wie diese unvermeidbar zur Folge hat.»

Der Richter beendete den Prozess zugunsten der jüdischen Kläger mit den Worten: «Ich hoffe, es werde eine Zeit kommen, in der kein Mensch mehr begreifen wird, wieso sich im Jahre 1935 beinahe ein Dutzend sonst ganz gescheiter und vernünftiger Leute vierzehn Tage lang vor einembernischen Gericht über die Echtheit oder Unechtheit dieser sogenannten ‹Protokolle› die Köpfe zerbrechen konnten, dieser ‹Protokolle›, die bei allem Schaden, den sie bereits gestiftet haben und noch stiften mögen, doch nichts anderes sind als ein lächerlicher Unsinn.»

Ein Büchlein gegen Vergessen

Die grosse Mehrheit der anwesenden Presse begrüsste das Urteil. Ausgenommen waren natürlich die anwesenden Propaganda-Vertreter des «Dritten Reiches». Bei der vorgefundenen Kirchenpresse aus Bern der Jahre 1934 und 1935 war die Berichterstattung zum Prozess selbst offenbar kein Thema: Das wöchentliche «Correspondenzblatt für die römisch-katholischen Gemeinden Bern» beschränkte sich generell auf Gottesdienstzeiten und Veranstaltungshinweise in den Kirchgemeinden. Der monatlich erscheinende und mehrheitlich auf Deutschland ausgerichtete «Saemann» thematisierte zwar die Verunglimpfung von Juden generell und räumte der nazikritischen «Bekennenden Kirche» viel Platz ein, berichtete aber nicht spezifisch über den «Berner Prozess». Die jüdischen Organisationen waren mit dem Urteil vom Mai 1935 zufrieden, erkannten aber auch, dass damit diese Weltverschwörungstheorie keineswegs aus der Welt geschafft war.

Sie stellten zudem fest, dass der Bundesrat nicht bereit war, sie vollumfänglich als Schweizer Bürger zu schützen. Als die NSDAP im September 1935 die Nürnberger Rassengesetze beschloss, wurde es auch hierzulande still um die jüdischen Kreise. Die verurteilten Frontisten reichten Rekurs beim Obergericht ein und bekamen 1937 Recht. Im Jahr 1938 publizierten Brunschvig und sein Kanzleipartner Emil Raas das Büchlein «Vernichtung einer Fälschung», welches noch einmal die wahre Herkunft der «Protokolle» und den Prozessverlauf nachzeichnete. Die beiden Autoren beendeten ihr Werk mit der rhetorischen Frage, für wen sie dieses Buch schrieben: «Dies geschah, weil wir wissen, wie vergesslich die Menschen sind, dass sie morgen schon eingelullt vom unablässigen Spiel der Propagandaapparatur den brutalsten Einmarsch vergessen, und dass es morgen schon wieder welche geben wird, die sich von einer Lügenschrift nach der Art der ‹Protokolle der Weisen von Zion› betören und verführen lassen. » Dies schrieben sie vor der Reichspogromnacht vomNovember 1938, vor dem Ausbruch des Krieges im September 1939, und deutlich vor dem Beschluss, Juden in Gaskammern zu vernichten.

Frühe Anläufe zum Antirassismusgesetz

Parallel befasste sich Georges Brunschvig mit der Schaffung eines Gesetzes, welches auch Ehrverletzungen von Bevölkerungsgruppen unter Strafe stellen sollten. Mit seinem Werk «Die Kollektiv-Ehrverletzung» war er somit ein früher Vordenker des heutigen Antirassismusgesetzes. Zahlreiche Anläufe wurden schubladisiert. Zweifellos trug die äusserst schwache Position der jüdischen Kreise in der schweizerischen Politik dazu bei. Erst 1969 erreichte der SIG einen Zwischenerfolg, als das Bundesgericht seine Klage gegen ein ähnliches Pamphlet guthiess. Die Verankerung in der Verfassung liess jedoch noch weitere 26 Jahre auf sich warten.

Bis in die Sechziger Jahre hatte sich auch die Stellung der Juden in der Schweiz massiv zum Positiven verändert. Mit den Erkenntnissen über den Holocaust und der Überidentifikation der schweizerischen Kriegsgeneration mit dem Kleinstaat Israel wurden auch Juden – zumindest an der Oberfläche – «en vogue». Zeitgleich anerkannte auch das 2. Vatikanische Konzil in der «Nostra aetate» die Notwendigkeit, gegenseitige Achtung und das brüderliche Gespräch zu fördern. Doch in den 30 Jahren zwischen dem Berner Prozess und dieser päpstlichen Anerkennung ereignete sich in Europa bis Mai 1945 eine Tragödie unvergleichlichen Ausmasses, auf welche die Schweizer Kirchen mehrheitlich erst 1944 reagierten.

Hannah Einhaus

Zum Dossier 150 Jahre Emanzipation der Schweizer Juden

In der nächsten Folge nimmt die Autorin die Haltung der Kirchen gegenüber den vom Holocaust bedrohten jüdischen Flüchtlingen unter die Lupe.

 

«Für Recht und Würde»
Über den Berner Anwalt Georges Brunschvig erscheint kommende Woche die Biografie «Für Recht und Würde» von unserer Autorin Hannah Einhaus. Berühmt geworden ist Brunschvig durch seine Rolle vor Gericht am oben erwähnten Prozess gegen die «Protokolle der Weisen von Zion» 1934/35.
Lesen Sie auch die Buchbesprechung von Andreas Krummenacher

Buchvernissage: Hannah Einhaus: «Für Recht und Würde. Georges Brunschvig: jüdischer Demokrat, Berner Anwalt, Schweizer Patriot». Mit Alexander Tschäppät, Herbert Winter u.a. Musik: Klezmerband Fruithill. Apéro. Mittwoch, 18. Mai, 18.30. Kornhausforum Bern, Kornhausplatz 18.
Jürg Meienberg

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