Niemand stirbt für sich allein

Die Haltung der Gesellschaft gegenüber Sterben und Sterbehilfe verändert sich. Wie positioniert sich die Kirche in diesem Diskurs?

Die Begegnung ist mir unvergessen. Einer meiner besten Freunde lud mich spontan zum Mittagessen ein. Er brauche heute Begleitung, sagte er mir am Telefon. Am Tisch, in einem Restaurant in Bern, eröffnete er mir, dass heute, an diesem Mittag, eine langjährige Freundin seiner Familie sich mit Exit das Leben nehme.

Sie habe ihre schmerzhafte Krebserkrankung nicht mehr ausgehalten und dem langsamen Verfall nicht mehr zusehen wollen. Vor zwei Wochen habe sie noch alle Freunde zu einem festlichen Essen eingeladen und sich von allen verabschiedet. Schon diese Begegnung sei ziemlich herausfordernd gewesen, erzählt mein Freund mit Tränen in den Augen.  

«Sterben ist immer auch eine soziale Angelegenheit. Niemand stirbt für sich allein», sagte Wolfgang Bürgstein, Generalsekretär der Schweizerischen Nationalkommission von Justitia et Pax, als er in Bern zusammen mit Bischof Felix Gmür, Bistum Basel, eine neue Studie und Broschüre zu Alterssuizid vorstellte. In der Schweiz sind weit über 100'000 Menschen Mitglied einer Sterbeorganisation. Unsere Gesellschaft tendiere dazu, das Leben auf den ökonomischen Nutzen zu reduzieren und vermeintlich belastendes Leben zu eliminieren, erklärte Bischof Felix Gmür und betonte, es dürfe nicht sein, dass Suizid zum Ausdruck sozialer Verantwortung werde: «Statt Leid zu lindern und das Leben in Abhängigkeit würdig zu gestalten, werden die Leidenden und Abhängigen aus dem gesellschaftlichen Leben verbannt». Ein Leben in völliger Unabhängigkeit sei eine abstrakte Ideologie, so der Bischof weiter: «Es ist im Gegenteil für menschliches Leben völlig normal, dass es vielfältig auf andere angewiesen ist.»  

Viele Patienten in Spitälern sind heute Mitglied einer Sterbehilfeorganisation. Hubert Kössler, Co-Leiter der Seelsorge im Inselspital schilderte in einem Praxisbeispiel, wie mit dieser Tatsache in der Seelsorge umgegangen werden kann. «Herr M. ist ein 83. jähriger Patient, der an einer schweren chronischen Krankheit leidet. Er ist seit Jahren Mitglied einer Sterbehilfeorganisation», so Hubert Kössler. Dem Seelsorger vertraute Herr M. an, dass für ihn eine der grössten Belastungen darin bestehe, dass er für viele Menschen eine Last darstelle, für die Pflegenden wie für die Angehörigen. Seine Angewiesenheit und Bedürftigkeit auszuhalten, sei für Herr M. mit Fortschreiten der Krankheit immer schwieriger. Komme dazu, dass seine Behandlung viel Geld koste: «damit liege ich der Familie und der Gesellschaft auf der Tasche; das möchte ich nicht mehr». Die Scham, die Herr M. über seinen Zustand empfand, verhinderte zudem ein offenes Gespräch mit seinen Angehörigen.  

Im Gespräch mit dem Seelsorger überlegte Herr M. erstmals, was er gewinnen und was er verlieren würde, wenn er tatsächlich mit Hilfe der Sterbehilfeorganisation aus dem Leben scheiden würde. «Herr M. würde gerne von seinem Leid erlöst werden. Aber er bedauert auch, dass er dann nicht mehr mit seinen Angehörigen zusammen sein könnte», erzählt Hubert Kössler. Die Enttabuisierung des Themas brachte eine neue Dynamik des Gesprächs in Gang. Herr M. begann mit seinen Angehörigen über seine Trauer und über seine Bedenken zu sprechen. Die Angehörigen selber bekamen dadurch Zugang zu ihrer eigenen Trauer. Hubert Kössler: «Der Druck, die Sterbehilfeorganisation in Anspruch zu nehmen, verlagerte sich zugunsten der neu entdeckten Trauer und der Frage, was jetzt ansteht».  

Der neue Diskussionsbeitrag aus christlich-sozialethischer Perspektive «Alterssuizid als Herausforderung – ethische Erwägungen im Kontext der Lebensende-Diskurse und von Palliative Care», die Justitia et Pax im Auftrag der Schweizer Bischofskonferenz veröffentlicht hat, stellt das bisher einseitig geführte Gespräch über Alterssuizid in einen grösseren Rahmen. Der begleitete Suizid wurde bisher mehrheitlich aus der Sicht von Selbstbestimmung und Autonomie geführt. Die Enttabuisierung des Sterbens ist in der neuen Studie Thema, wie auch das Sterben als soziales Phänomen. Die ökonomischen Aspekte werden angesprochen und das gegenwärtige gesellschaftliche Menschenbild durchleuchtet. Auf die Frage einer Journalistin, ob ein Mensch, der sich dann trotzdem für den begleiteten Suizid entscheide, von der Seelsorge auch weiterhin betreut werde, sagte Bischof Felix: «Wir lassen niemanden allein. Aber einen Entscheid akzeptieren heisst nicht, ihn gut finden».

Hätte die Bekannte meines Freundes diese erweiterte Sicht mitbekommen, vielleicht wäre ihr endgültiger Abschied anders ausgefallen und ihr Freundeskreis wäre nicht allein gelassen worden. Sterben hat eine soziale Dimension. Die neue Studie und der dazu veröffentlichte Leporello «Beim Sterben helfen: Sterbebegleitung oder Alterssuizid?» sind eine konkrete Hilfe für schwierige Entscheide.

jm 

Die Studie von Justitia et pax zum Download als PDF

Der Flyer zur Studie <link file:42494 icon-file>als PDF

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