Antiphonarium lausannense aus der Kirche St. Vinzenz, Bern (dem heutigen Münster). Aufbewahrt wird dieses liturgische Buch für das Stundengebet in der Collégiale de Saint-Laurent in Estavayer-le-Lac. Volume II, S. 193, im Original mit Seite 387 bezeichnet. Antiphonarium lausannense, pars aestiva, de Sanctis (vol. II).
Quelle: www.e-codices.unifr.ch/de/list/one/psle/0002b

Rätselhaftes Verhältnis zur Musik

Die Musik als Ausdrucksform des Glaubens war nicht immer unumstritten. Wir zeigen auf, wie's die Reformatoren mit dem Musizieren hatten.

2017 ist ein Reformationsjahr (siehe Front). Seit 1520 breitete sich auch in Bern, Basel, Zürich und Genf und den entsprechenden Regionen der West-, Nord- und Ostschweiz die Reformation aus. Damit änderte sich in den reformierten Orten auch das Musikverständnis. Wie hielten es die Reformatoren mit der Musik?

Von Angelo Garovi*

Die beiden grossen Reformatoren, Ulrich Zwingli in der deutschen, Jean Calvin in der französischen Schweiz, wurden zu den grossen Widersachern der römischen Kurie. Beide nahmen auch Stellung zur Musik und beeinflussten dadurch auf lange Zeit hinaus die Gestaltung der Kirchenmusik im Rahmen ihrer Bekenntnisse.

Zwinglis Musikverständnis

Zwinglis Verhältnis gegenüber der Musik ist rätselhaft, weil er der musikbegabteste der Reformatoren war. Zwingli war sehr musikalisch und soll verschiedene Instrumente gespielt haben; so werden Laute, Harfe, Geige, Flöte, Pfeife, Trumscheit, Hackbrett, Zinken und Waldhorn genannt. Zwingli begründet seine Auffassung in seinen Schriften: Immer wieder hebt er hervor, dass alles abzulehnen sei, was nicht in der Bibel ausdrücklich gelehrt und geboten werde. Er bekämpft deshalb liturgisch-kultische Zustände, die nicht in der Bibel begründet sind und die er als Ergebnis der Tradition der römischen Kirche auffassen musste. Er fordert die Verinnerlichung allen Betens und aller Andacht. Mit Bibelstellen wird die Ansicht vertreten, dass keine Vertiefung der Andacht erreicht wird durch Musik und Malerei.

Zwinglis rigorose Ablehnung jeder künstlerischer Auszierung des Gottesdienstes, sein Verbot des Kirchengesanges und Orgelspiels ist das Ergebnis seiner theologischen Anschauung – mit der grundsätzlichen Abneigung gegen die Verquickung der (vor allem mehrstimmigen) Tonkunst mit religiösen Empfindungen und Werten.

Bildersturm

Zwingli liess kultische Einrichtungen zerstören, die er nicht verantworten zu können glaubte. In den Jahren 1524 bis 1527 wurden in Zürich nacheinander Bilder, Altäre, Heiligenstatuten und Orgeln beseitigt. Dabei wurden auch wertvolle pergamentene Musik-Handschriften, wie Zwinglis Nachfolger Heinrich Bullinger schreibt, «zerissen und den krämern, apotekern zuo bulferhüsslinen, den buochbindern ynzuobinden und den schuoleren und wer koufen wollt umm ein spott(preis) verkouft.»

Ein detailliertes Inventar des Stiftskustos überliefert der Nachwelt, was für wertvolle Kelche, silberne und goldene Monstranzen, was für Paramente in Damast, Samt und Seide und was für schöne Musikhandschriften – Psalterien, Graduale und Antiphonarien – vernichtet worden sind.

Nicht viel besser ging es im Berner Münster 1528 zu und her. Ein Fund im alten Friedhof neben dem Münster liess 1986 aufhorchen. Man fand über 500 zerstörte Steinmetzarbeiten von höchstem Niveau aus der Zeit von 1420 bis zur Reformation von 1528, die damals kurzerhand vergraben wurden. Unter den Steinmetzarbeiten finden sich Figuren von Albrecht von Nürnberg, einem Schüler des Würzburger Bildhauers Tilman Riemenschneider. Immerhin wurde 1530 ein einzigartiges, mit Initialen und Randverzierungen (siehe Illustration auf der Front und auf Seite 3) versehenes, vierbändigesAntiphonarium nach Freiburg verkauft; es ist heute noch als Dokument der hochstehenden vorreformatorischen Musik am Berner Münster in der Collégiale Saint-Laurent in Estavayer- le-Lac zu sehen.

In der alten Bischofsstadt Basel, in der die Heiligenbilder auch zerstört wurden, verkaufte der Rat offenbar den Stiftsschatz, sodass er noch heute in einem Berliner Museum zu sehen ist. Die schöne Orgel mit Malereien von Hans Holbein auf den Flügeltüren wurde nicht abgebrochen und bereits 1561 wieder durch den (katholischen) Komponisten und Organisten Gregor Meyer im Gottesdienst gespielt.

Wiedereinführung der Musik nach der Reformation

In Basel wirkte bereits im frühen 17. Jahrhundert wieder ein bedeutender Musiker, der aus Tournai stammende Samuel Mareschall; er gab sogar 1606 ein Gesangbuch mit vierstimmigen Sätzen heraus.

1574 wurde auch in Bern wieder der Psalmengesang eingeführt, der seit 1581 sogar mit Bläsern begleitet wurde – eine Orgel wurde aber erst um 1731 wieder eingebaut. Und in Zürich wurde um 1598 wieder der Kirchengesang eingeführt, eine Orgel aber erstaunlicherweise erst im späten 19. Jahrhundert – um 1876 – wieder eingebaut. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts führten auch andere reformierte Kirchen wieder die gesungene Musik ein, die teilweise auch mehrstimmig mit Begleitung von Bläsern aufgeführt wurde.

In den reformierten Gegenden wurde die negative Haltung Zwinglis gegenüber der Musik und Calvins gegenüber dem mehrstimmigen Chorgesang nur langsam überwunden. Der Komponist Heinz Holliger sagte einmal, Calvin und Zwingli hätten die Schweiz «entchort».

Die reformierten Orte haben dann mit der Zeit doch die Entwicklung der in Italien und Deutschland vorgebildeten Collegia musica (Liebhaberchöre und -orchester zur Pflege des Psalmengesanges) übernommen. Die Ausübung lag in den Händen von Dilettanten und zugezogenen Berufsmusikern. Zu den Gattungen, die im 17. Jahrhundert gespielt und gesungen wurden, gehörten das mehrstimmige (instrumentalbegleitete) Lied, die Passionskantate und die Orgelmusik (vor allem Psalmen- und Liedbearbeitungen). In Basel, Zürich und Bern gab es auch lokal wirkende Komponisten geistlicher Musik. Im 18. Jahrhundert, vor allem in der zweiten Hälfte, nahmen dann auch Aufführungen von Instrumentalwerken immer mehr zu. In einem der ersten öffentlichen Konzerte in Zürich spielte der zehnjährige Wolfgang Amadeus Mozart (1766).

Reformierte Kirchenlieder in der Wallfahrtskirche Sachseln

Ein interessantes, sozusagen vorökumenisches Faktum ist in einer Orgelhandschrift aus Sachseln überliefert. An der dortigen Pfarr- und Wallfahrtskirche (Bruder Klaus) wirkte Johannes Zbären als Organist. Der in Ingolstadt ausgebildete Magister artium nimmt in seiner Orgeltabulatur von 1637 im Orgelsatz «Pater noster» als Cantus firmus, als feststehenden Gesang also, den reformierten Choral «Vater unser im Himmelreich» und unter dem Titel «Deus refugium meum» sogar «das» reformierte Lied «Ein feste Burg ist unser Gott» – ein eher ungewöhnlicher, aber spannender Aspekt in der Musikgeschichte der reformierten und der katholischen Schweiz.

Reformation in Genf

In Genf fand der Bruch mit der alten lateinischen Liturgie im August 1535 statt; Orgel,katholische Paramenten und Heiligenbilder wurden entfernt. Johannes Calvin kam im Spätsommer 1536 nach Genf. Wenige Monate später, im Januar 1537, verlangten die Genfer Pfarrer – zweifellos unter Calvins Einfluss – die Einführung des Psalmengesanges im Gottesdienst. Calvin anerkennt aber nur den einstimmigen Psalmengesang.
Johannes Calvin, eher unmusikalisch, wusste aber wohl um die Wirkung der Musik, er wusste, dass der Gesang ein mächtiges Mittel ist, den Menschen zur Anbetung und Lobpreisung Gottes anzuregen.

Der Genfer Psalter – eine Erfolgsgeschichte

Calvin, der aus Genf fliehen musste, lernte 1538 in Strassburg Psalmvertonungen kennen und war von ihnen beeindruckt. Ein Jahr später, 1539, gab er eine französische Sammlung von gereimten Psalmliedern heraus. Sie enthält neun Texte von Calvin auf Melodien des Strassburger Repertoires und dreizehn Texte des bedeutenden französischen Dichters Clément Marot; der Komponist der Melodien zu diesen Texten ist nicht bekannt.

1541 wird Calvin nach Genf zurückberufen und publiziert im Jahr darauf seine Gottesdienstordnung. In ihr finden sich die Lieder der Strassburger Sammlung wieder, dazu 17 neue Texte von Marot (vertont vom Genfer Kantor Guillaume Franc). 1551 erscheinen die «Psaumes Octantetrois». Als Textdichter ist Clément Marot von Théodore de Bèze abgelöst worden; der aus Paris stammende Loys Bourgeois hat die neuen Melodien komponiert. Bourgeois war Kantor an St.-Pierre von 1545 bis 1551. Der komplette Psalter erschien 1562 in Genf.

Diese Genfer Melodien wurden auch von den bedeutenden Komponisten Claude Goudimel, Claude Le Jeune u.a. mehrstimmig gesetzt. Goudimels mehrstimmige Bearbeitungen von 1564 (Druck Paris) und 1565 (Genf) erfuhren weite Verbreitung. Für den reformierten Theologen und Musikwissenschaftler Andreas Marti gehören diese Kompositionen zum Besten, was die Motettenkunst der Spätrenaissance zu bieten hat.

Die ein- oder mehrstimmigen Fassungen der Genfer Psalmen wurden neben den Niederlanden auch in Deutschland, England, Schottland, Italien, Polen, Ungarn und Nordamerika vor allem von Glaubensflüchtlingen übernommen und gesungen.
Bedeutsam wurde die deutsche Übersetzung der französischen Psalmen von Ambrosius Lobwasser und ihre Veröffentlichung mit den vierstimmigen Goudimel-Vertonungen 1573 in Leipzig («Der Psalter»), 1699 auch in Bern erschienen («Psalmen Davids»).
Diese Psalmenvertonungen beeinflussten auch die Komponisten deutscher Kirchenlieder – bis hin zu Johann Sebastian Bach («Freu dich, du meine Seele» – «Wenn wir in höchsten Nöten sind»).

*Prof. em. Dr. Angelo Garovi, Germanist, Historiker, Musikwissenschafter, Komponist. Zuletzt erschienen: Angelo Garovi, Musikgeschichte der Schweiz, Stämpfli Verlag, Bern 2015

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