«Ich gehe nicht dorthin, um zu chatten.» Foto: Ben Weber on Unsplash

Roaming

Susan Glättli über verschiedene Facetten des «Umherstreifens»

Möglicherweise sind Sie jetzt gerade aus den Ferien zurück, wo Sie ausgiebig «roamen» konnten. Das Wort Roaming steht nämlich nicht nur für das Nutzen eines fremden Mobilfunknetzes, sondern bedeutet auch «herumstrolchen» oder «umherstreifen». Herumstrolchen – da erinnere ich mich sofort an die wilden Zeiten mit 16 oder 17 Jahren, als wir zu unmöglichen Nachtzeiten die Stadt durchstreiften. Leergefegte Plätze und Strassen, wo sich bei Tag Passantenströme und Verkehr drängen, luden dann zum Verweilen, sich Beschnuppern und zu langen Gesprächen über Gott und die Welt ein. Wenn ich’s genau überlege, ist es ein Privileg, so ohne Aufsicht streifen zu dürfen. Nicht allen Frauen weltweit ist es vergönnt, selbstständig einen Weg durch die Stadt zu wählen, ohne sich in Gefahr zu bringen oder beschimpft zu werden – noch weniger jungen Mädchen.

Doch vielleicht ist das Umherstreifen nur für diejenigen Menschen schön, die ein Zuhause haben oder die zu einem Zuhause zurückkehren können. Für jene, die schon lange unterwegs sind – von Unterschlupf zu temporärer Bleibe oder von Land zu Land –, ist das Umherstreifen wohl eher ein Ausdruck von Heimatlosigkeit und Fremdsein. Im Volkslied «Wayfaring Stranger» singt Eva Cassidy «I’m going there (over Jordan) to see my Father, I’m going there no more to roam». Der Protagonist im Lied sehnt sich danach, nach dem Tod nicht mehr in dieser leidvollen Welt herumtingeln zu müssen. Er will endlich ankommen und zu Hause sein. Und wir, die wir ein gut eingerichtetes Zuhause haben, brauchen dauernd Roaming? Damit wir alles, was wir jenseits des heimatlichen Mobilfunknetzes erleben, mit nach Hause gesandten Fotos dokumentieren können? Ich werde in den nächsten Ferien (versprochen!) kein Roaming mehr buchen und dafür singen: «I’m going there no more to roam.» Zu Deutsch: Ich gehe nicht dorthin, um zu chatten.

Susan Glättli

«Wir nehmen uns die Zeit» im Überblick

 

 

 

 

Susan Glättli
38, die Geografin hat sich der Nachhaltigkeit und der Kommunikation verschrieben. Sie liebt Worte, nicht-festgehaltene Musik, Wildnis und in- tegre Menschen.

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