Opulent Ascension, Sean Scully, zwischen Himmel und Erde, Jakobsleiter/
Himmelsleiter. Installation im Rahmen der Ausstellung «Human», Benediktinerabtei
San Giorgio Maggiore, Venedig, 2019. Foto: Andreas Krummenacher

Spiritualität ohne Gott?

Spirituell sein ohne Gott ist möglich, meint Irene Neubauer

Spirituell sein ohne Gott ist möglich. Wie, mögen jene fragen, die kirchlich-christlich sozialisiert wurden und vielleicht auch praktizierend sind.

von Irene Neubauer, Theologin Fachstelle Kirche im Dialog, offene Kirche Bern

Spiritualität hat mit Transzendenz zu tun. Das lateinische Wort transcendere bedeutet überschreiten. Es geht um die Sehnsucht danach, die engen Grenzen des eigenen Ichs zu überschreiten, geborgen zu sein in der Verbundenheit mit einem umfassenden Sinnzusammenhang, sich hinzugeben an etwas Grösseres als die eigenen beschränkten Interessen.

Diese Sehnsucht und die Erfahrungen von Transzendenz, also von Überschreiten der Ego-Grenzen, der Verbundenheit mit und der Hingabe an etwas, das grösser ist als ich, haben Menschen zu allen Zeiten und überall auf der Welt auch ausserhalb von organisierter Religion gemacht. Und ohne Rückgriff auf die Vorstellung eines personalen Gottes. Agnostische (von Altgriechisch a-gnôsis, «ohne Wissen», «ohne Erkenntnis») und auch a-theistische (ohne personale Gottesvorstellung) spirituell-philosophische Lebenshaltungen sind wohl so alt sind wie die fragende, staunende und sinnsuchende Menschheit. Und nicht wie oft angenommen nur – je nach Standpunkt – ein spezifisches Problem oder eine Errungenschaft der westlichen Moderne.

Ich lade Sie ein, zwei exemplarische Blicke über den Tellerrand in die Vergangenheit und in die Ferne zu werfen. Unter dem Druck von Gewalt und Leid im China seiner Zeit kam Lao-Tse, (* Ende des 7. Jh. v. Chr.) der einflussreichste Vertreter des Taoismus zur Einsicht, dass Himmel und Erde gleichgültig sind gegenüber dem Geschick der Menschen. Im Tao-Te-King, der ihm zugeschriebenen Sammlung von Lehrgedichten, heisst es: «Himmel und Erde sind nicht gütig. Ihnen sind die Menschen wie stroherne Opferhunde. » Das Tao-Te-King stellt alle gängigen Vorstellungen über Moral und eine treusorgende Himmelsmacht in Frage. Es stellt nüchtern fest: So ist das Verhältnis der Natur zu allen Lebewesen – solange ihre Zeit da ist, ist alles da, was sie brauchen. Aber wenn ihre Zeit um ist, werden sie verbrannt wie die strohernen Opferhunde und weggeworfen. Wonach es zu streben gilt, ist, im Einklang mit dem Weg der Natur, dem Tao, zu leben. Dazu gehört der stete Wandel, der im Symbol von Yin und Yang ausgedrückt wird.

In der Antike gab es verschiede Exponenten und Schulen, die agnostische oder auch explizit atheistische Auffassungen vertraten – und in der damaligen Gesellschaft auf ähnliche Ablehnung stiessen wie später in den christlich geprägten Gesellschaften. Zum Beispiel die Epikureer. Sie wurden verunglimpft als aufs reine Vergnügen ausgerichtete Hedonisten. Zu Unrecht: Epikur, (* 342 v. Chr. auf Samos), nach dem die Denkschule benannt ist, vertrat Beschränkung auf das Wesentliche als Königsweg zum glücklichen Leben.

Über die Götter sagt er in einem Brief: «Man darf nicht meinen, dass die Bewegung der Himmelskörper, ihre Wende, Verfinsterung, Aufgang und Untergang und was sonst dazu gehört, durch irgendeinen ‹Verwalter› bewirkt werden, der ordnet und ordnen wird und gleichzeitig alle Glückseligkeit besitzt samt der Unvergänglichkeit.» – «Man muss also annehmen, dass gleichzeitig mit den Himmelskörpern bei der Entstehung des Kosmos die Notwendigkeit ihrer Bewegung und ihre Bahn entstanden sind.» – «Nach alldem muss man noch Folgendes beachten: Nämlich, dass die grösste Unruhe in den menschlichen Seelen erstens durch die Meinung entsteht, diese Wesen, die Götter, seien glückselig und unvergänglich; gleichzeitig aber sollen sie wollen, handeln, verursachen, was damit nicht zu vereinbaren ist.»

Das klingt wie von heute: Ebenso wenig wie die Gesetze und Abläufe des Kosmos werden die Geschicke der Menschen von einem Gott oder Göttern bestimmt. Der Kosmos ist bestimmt durch Gesetze, die sich notwendig aus und parallel mit seiner Entstehung ergeben haben. Es gibt keine Vorsehung und die Menschen dürfen getrost die Angst vor den Göttern ablegen. Das führt nicht zu Zynismus oder Gleichgültigkeit. Sondern zu einer nüchtern- gelassenen, spirituellen Philosophie des Glücks.

Kehren wir zurück in unsere Zeit. Albert Camus, französischer Schriftsteller, geboren und aufgewachsen in Algerien, notiert in seinem Tagebuch: «Ich glaube zwar nicht an Gott. Ich bin aber auch kein Atheist.» Er spricht von «einem unbesiegbaren Sommer in mir», vom glückhaften Geheimnis der Welt und von einem Sinn, «der schwer zu verstehen ist, weil er blendet» (zitiert von Lorenz Marti in: Türen auf. Spiritualität für freie Geister, S. 67). Das ist eine tief spirituelle Sprache, die vom Staunen spricht, von der Wahrnehmung eines geheimnisvollen Sinn-Zusammenhanges und dem Eingebettet-Sein in die Welt.

Sein Landsmann, der Philosoph André Comte- Sponville, hat seine dezidiert atheistische Position, die aber offen ist für eine spirituelle Dimension, im wunderbaren Buch vorgestellt: «Woran glaubt ein Atheist? Spiritualität ohne Gott» – («L’esprit de l’athéisme. Introduction à une spiritualité sans Dieu»). Er gehört nicht zu den pfaffenfressenden, militanten Atheisten. Er spricht im Gegenteil mit Hochachtung von seiner Schulzeit in einer von Jesuiten geführten Schule, von den künstlerischen und ethischen Werten des Christentums, die er teilt. Und er spricht vom «ozeanischen Gefühl» – als Gefühl einer tiefen Verbundenheit mit dem grossen Ganzen und dem Aufgehoben-Sein darin.

Agnostische und sogar atheistisch-spirituelle Haltungen gibt es auch unter Theolog* innen und kirchlichen Amtsträger*innen. In den 80er Jahren erregte die amerikanische Theologin Carter Heyward mit ihrem Buch «Und sie rührte sein Kleid an. Eine feministische Theologie der Beziehung» Aufsehen. Sie demontiert die personale Gottesvorstellung und definiert Gott als die Macht in Beziehung. Auf den Vorwurf, in der feministischen Theologie habe es keinen Platz für Transzendenz, stellt sie fest, «dass die Kritiker mit dem Transzendenten ‹Gott› meinen. Sie meinen ganz sicher nicht die Macht gegenseitiger Beziehung, sondern eine Macht hierarchischer Beziehung. Sie meinen einen Gott, der oben steht, einen Gott, der in der christlichen Tradition als ‹Vater, Sohn und Heiliger Geist› gedacht wurde.»

Noch als anglikanischer Bischof von Newark, New Jersey, schrieb John Shelby Spong: «Wir spüren, dass unsere einzige Hoffnung ist, diese Definition von Gott hinter uns zu zurückzulassen, nämlich die Vorstellung von einem Gott, der überweltlich und übernatürlich ist, der in die Welt eingreift (…). Wir müssen herausfinden, ob der Tod des Gottes, den wir gestern anbeteten, dasselbe ist wie der Tod Gottes überhaupt.» Spong möchte nicht den totalen Bruch: Er träumt von einer anderen Kirche, die die theistische Fixierung aufgibt und eine ganz neue Sprache entwickelt.

Eine stetig wachsende Zahl von Exilant*innen christlicher Herkunft sind auch hier zu Lande mit ähnlichen Träumen am Rande der Kirchen unterwegs. Zu diesen gehörten wohl viele von den Frauen und Männern, die 2011 in Scharen in die «offene kirche bern» kamen, um Klaas Hendrikse zu hören, den niederländischen Pastor, der von sich sagt, er glaube nicht an einen Gott, den es gibt.

In der Berner Kirchenlandschaft hat sich 2013 die Pfarrerin Ella de Groot ganz ähnlich geäussert: «Ich habe mich von einem personalen Gottesbild verabschiedet. So kann ich auch nicht mehr von ‹Himmel› und ‹Hölle› reden. Das sind alles Projektionen von Menschen. Daran muss ich nicht glauben. Mit meinem Tod wird mein Leben aufhören. Ich bleibe aber Teil des ewigen Universums. Was mich ausmacht, wird verwandelt, geht nicht verloren. Und vor allem wird das weitergehen, was ich im Leben mit meiner Liebe bewirke.» Es sei ihr deshalb wichtig, zu neuen Gottesbildern aufzubrechen. «Ich habe es als befreiend empfunden, wie ich die traditionellen Bilder hinter mir lassen konnte und weggekommen bin von den personalen Gottesvorstellungen. Diese Erfahrung möchte ich weitergeben. Das ist für mich die gute, befreiende Botschaft. Das ist letztlich Evangelium.»

In dieser gott-losen, nüchternen und zugleich lebensbejahenden spirituellen Haltung lebten und leben also nicht nur eine Handvoll gebildeter Menschen der Vergangenheit und der Gegenwart. Zu allen Zeiten und weltweit gab und gibt es neben religiösen Mehrheitspositionen diese anderen Stimmen, die Zweifelnden, die Kritiker*innen. Wie ein tiefer Hintergrundton begleiten ihre radikalen Fragen die Rezitationen, die Lieder, die Gebete der Gläubigen.

Im kürzlich erschienenen, schönen Buch «Türen auf! Spiritualität für freie Geister» spricht Lorenz Marti solche Menschen an. Letztlich ist zweitrangig, was wir glauben oder nicht. «An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen », sagt Jesus. Das heisst: Entscheidend ist nicht der richtige Glaube, sondern das richtige Handeln. Es gilt, Seite an Seite unterwegs zu sein, staunend über das Geheimnis des Lebens auf diesem winzigen Planeten im riesigen Kosmos, fragend nach dem guten Leben, sich zusammen tun im Engagement dafür – verbunden in einer lebensfreundlichen, spirituellen Grundhaltung.

 

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