Foto: Maria Oswalt/unsplash.com

Sterben dürfen

Gedanken aus der Spitalseelsorge. Eine Kolumne der Seelsorger*innen am Inselspital Bern.

Von Kaspar Junker.

 

Als Seelsorgende im Inselspital kommen wir oft mit dem unzeitigen Tod in Berührung: Als Christ*innen sind wir da unweigerlich «Protestleute gegen den Tod» (Kurt Marti).

Zuhause ist sie wüst gestürzt, ihr Kopf ist ganz verschlagen, sie hat eine Hirnblutung. Neben der immer noch blutenden und gebrochenen Nase fällt mir das Hugenottenkreuz auf, das die 89-jährige Frau um den Hals trägt. Sie habe es von ihrer Mutter geerbt und es seit ihrem Tod jeden Tag getragen.

Die alte Frau ist müde. Leise kann sie sagen, sie habe ein gutes Leben gehabt, liebe Eltern und eine schöne Kindheit, eine grosse Familie mit vielen Enkel- und Urenkelkindern, dass sie sich geführt wisse und viel Segen erfahren habe.

Jetzt ist genug. Mit den vielen Gebrechen ist das Leben schon lange schwer geworden und mühsam. Sie möchte gern sterben können und fühlt sich dem Tod nahe. Der Tod scheint für sie keine Spur von Schrecken zu haben und der lebensbedrohliche Zustand scheint alles andere als eine Bedrohung zu sein.

Ich bin beeindruckt, wie getrost und schlicht diese Frau ihren Weg geht. Sie zitiert ergeben den Vers aus dem 31. Psalm: «Meine Zeit steht in deinen Händen». Sie ist parat, für das, was kommt – fern von Suizidgedanken oder Exit.

Ich bin berührt und nehme eine Kraft wahr, die aus diesem getrosten Ergebensein und tiefen Vertrauen spricht.

Am nächsten Tag tut es mir im Herzen weh, als mir bewusst wird, wie wenig diese Kraft der reifen Frau in der Logik des Akutspitals wahrgenommen wird. Die Pflegefachfrau informiert mich beinahe triumphierend, dass die Patientin schon viele Fortschritte gemacht habe, sie habe sie schon zum Aufstehen bewegen können. Leider spreche sie immer noch vom Sterben und verweigere Medikamente, aber glücklicherweise sei die Reha bereits organisiert.

Mein Eindruck ist nicht, dass es der Frau besser geht. Im Gegenteil. Sie macht mit, weil sie gewöhnt ist, zu tun, was man von ihr verlangt. Sie wird noch am gleichen Tag in die Reha verlegt.

Meine Gedanken wandern manchmal immer noch zu dieser Frau, und ich wünsche ihr von Herzen, dass man sie nicht am Sterben zu hindern versucht.

Ich frage mich, ob es nicht auch Situationen gibt, wo wir Protestleute für den Tod sein sollten.

Pfr. Kaspar Junker, ref. Seelsorger

Kolumnen aus der Inselspitalseelsorge im Überblick

Diese Website nutzt Cookies. Durch die weitere Nutzung der Site stimmen Sie deren Verwendung zu und akzeptieren unsere Datenschutzrichtlinien.