Foto: Hans Heiner Buhr on Unsplash

Überall sucht ein jeder seinen Stall

Susan Glättli über ein Volkslied, Stalldrang und Ankommen

Vielleicht meinen Sie jetzt, dass ich verzweifelt die hölzernen Figuren der Weihnachtskrippe und den Stall dazu suche. Ja, das kommt noch, dass ich die suche. Aber ich meine etwas anderes: Die Zeile im Titel stammt aus dem Volkslied «Hüaho, alter Schimmel, hüaho». Meine Kinder singen das öfter, und ich fühle mich öfter wie das besungene Pferd. Ich will nach Hause, ins warme Stroh liegen und den Tag ablegen. Wenn ich abends im Zug die Pendler rechts und links anschaue, so sehe ich viele solche Pferde, die endlich in den Stall zurückwollen. Besonders wenn es draussen schon dunkel ist und der Regen über die Scheiben wandert. «Unser Weg ist der gleiche sowieso, sowieso», singen sie im Lied. Ja, leider, der Arbeitgeber könnte doch … Aber halt: Diese Liedzeile hat doch einen wunderbaren Inhalt. Erstens ist es sehr tröstend, diesen Weg gemeinsam mit vielen Menschen zurückzulegen. Zweitens ist es egal, wo ich mich befinde, um auf meinem Lebensweg Fortschritte zu machen. Auch hier, mit dampfendem Fell, müdem Rücken und Sehnsucht nach dem Stall, kann ich etwas begreifen, was mich vorwärtsbringt. Geduld?

Als Kind durfte ich abends zur Melkzeit beim Bauern Milch holen gehen. Dabei habe ich oft noch eine Runde durch den Stall gemacht, zugeschaut bei diesen immer gleichen Handlungen und die friedliche Atmosphäre genossen. Das Schnaufen der Kühe, das Brummen der Maschine, die Wärme der Leiber – für mich ein Moment Ewigkeit. Natürlich verändert sich auch ewig Geglaubtes. Der Bauer melkt heute seine Kühe nicht mehr, Mutterkuhhaltung, modernisiert, und ich gehe nicht mehr mit dem Kesseli Milch holen. Doch Stalldrang verspüre ich immer noch, Sehnsucht nach dem Ankommen. Heute Abend, wenn ich zu Hause bin, werde ich im Estrich die Krippe suchen gehen und dem alten Schimmel eine schöne Ecke einrichten.

«Wir nehmen uns die Zeit» im Überblick

 

 

 Susan Glättli
 38, die Geografin hat sich der Nachhaltigkeit und der Kommunikation
 verschrieben. Sie liebt Worte, nicht festgehaltene Musik,
 Wildnis und integre Menschen.

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