Kind bei der Kartoffelernte im Entlebuch, 1941. Foto: Fotostiftung Schweiz, Theo Frey, Keystone

Verdingt, verletzt, vergessen

Die Schweizer Bischofskonferenz empfiehlt, in den Gottesdiensten am 16. August die Kollekte zugunsten des «Soforthilfefonds für die Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen» aufzunehmen. Es gehe darum, schreiben die Bischöfe, Menschen zu helfen, die bis heute in Schwierigkeiten sind, weil ihnen vor Jahren «schweres Unrecht geschehen ist».


Zu den Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen oder Fremdplatzierungen gehören Verdingkinder, Heimkinder, zwangsweise entmündigte Menschen und Personen, an denen ohne Zustimmung Abtreibungen, Sterilisierungen oder Kastrationen vorgenommen worden sind. In einem ersten Schritt hat die Eidgenossenschaft einen runden Tisch und einen Soforthilfefonds eingerichtet. Wir haben über die Kollekte vom 16. August mit Wolfgang Bürgstein gesprochen. Der Generalsekretär der Kommission «Justitia et Pax» der Schweizer Bischofskonferenz vertritt die katholische Kirche am runden Tisch.

«pfarrblatt»: Was hat diese Kollekte mit mir zu tun, der ich heute beispielsweise einfach nur den Gottesdienst besuche möchte?
Wolfgang Bürgstein: Opfer dieser fürsorgerischen Zwangsmassnahmen leben heute noch unter uns. Vielen von ihnen ist schlimmes Leid widerfahren, das sie Zeit ihres Lebens begleiten wird. In der Zeit, als solche Dinge noch gang und gäbe waren, haben viele weggeschaut: Aufsichtsbehörden, Vorgesetzte, Nachbarn und Verantwortliche in Politik und Kirche. Es liegt nun in unserer Verantwortung, diesen Menschen zu helfen. Gottesdienst muss immer auch Menschendienst sein. Wenn wir also zusammen Gottesdienst feiern, tun wir das nicht als geschlossener Zirkel, sondern denken immer auch an das Leid der anderen.

Wieso soll die Allgemeinheit für etwas bezahlen, was andere verbrochen haben?
Viele der damals Verantwortlichen leben inzwischen nicht mehr. Dafür haben wir zu lange weggeschaut und das Leid dieser Menschen ignoriert. Es gehört zur Tragik der Aufarbeitung dieser Geschichte, dass die Verantwortlichen in den allermeisten Fällen nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden können. Aber die heute noch lebenden Opfer haben unsere Solidarität nötig. Der Soforthilfefonds wird finanziert aus freiwilligen Beiträgen, niemand wird also gezwungen, einen finanziellen Beitrag zu leisten. Jeder Beitrag ist aber ein Ausdruck der Anerkennung des widerfahrenen Unrechts.

Es gibt Menschen, die entgegnen: Es war eine andere Zeit. Viele Kinder hatten es schwer, auch jene, die nicht Verdingkinder waren. Was sagen Sie dazu?
Es war in der Tat eine andere Zeit, und vieles, was wir heute zu Recht im Umgang mit Kindern nicht mehr akzeptieren, war damals, bis Anfang der 1980er Jahre, irgendwie normal. Auch Kinder, die nicht verdingt oder in ein Heim eingewiesen wurden, hatten nicht selten eine schwere Kindheit, weil Schläge, fehlende Wertschätzung und Mitarbeit im elterlichen Betrieb zum Alltag gehörten. Ich hoffe, dass die allermeisten dieser Kinder dennoch ihren Platz im Leben finden konnten und mit der Zeit dankbar auf das ihnen geschenkte Leben schauen können. Aber denjenigen, die gezeichnet sind von dem ihnen widerfahrenen Leid, müssen wir beistehen.

Kann Geld hier überhaupt helfen?
Grundsätzlich können wir das widerfahrene Unrecht und das daraus entstandene Leid nicht ungeschehen machen, auch nicht durch Geld. Aber Geld kann insbesondere denjenigen helfen, die in Schwierigkeiten sind und von anderer Seite keine angemessene Unterstützung erhalten. Der Soforthilfefonds hilft deshalb solchen Menschen in Form einer Einmalzahlung, damit sie sich vielleicht eine neue Brille oder die Begleichung allfälliger Schulden leisten können. Der Fonds ist als Überbrückungshilfe gedacht, bis die «Wiedergutmachungsfrage» gegenüber den Opfern auch politisch geklärt ist.

Wieso erst jetzt, Jahrzehnte danach?
Nachdem Bundesrätin Simonetta Sommaruga am 11. April 2013 im Rahmen einer Gedenkveranstaltung die Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen im Namen der Landesregierung für das zugefügte Leid um Entschuldigung gebeten hatte, konnte man das Thema nicht mehr ignorieren. Ich glaube, diese Frage müssen wir uns alle stellen. Warum hat es so lange gebraucht, bis wir die Klagen, die Erzählungen der Opfer ernst genommen haben? Vielleicht war es die Scham, die uns das Wegschauen so einfach gemacht hat? Aber besser heute als nie, weil ein angemessener Umgang mit dieser Geschichte die Chance bietet, dass so etwas nie wieder geschieht. Dunkle Kapitel in der eigenen Geschichte holen einen bekanntlich immer wieder ein, wenn man sich ihnen nicht stellt.

Interview: Andreas Krummenacher

Kollekte
Bischöfliche Kanzlei Solothurn, «Soforthilfefonds für die Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen», Postkonto 45-15-6

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