Martin Werlen erkennt manchmal auch in sich selbst eine verachtende Haltung gegenüber anderen. Foto: Franz Kälin

«Viele verwechseln das System mit Glauben»

Martin Werlen über sein jüngstes Buch

«Raus aus dem Schneckenhaus» heisst das jüngste Buch von Martin Werlen. Der Alt-Abt von Einsiedeln denkt darin über Pharisäer*innen, Gottsuche und Gemeinschaft nach.

Interview: Marcel Friedli

«pfarrblatt»: Martin Werlen, in Ihrem Buch beschreiben Sie den starren Pharisäer. Wann haben Sie ihn letzte Mal bei sich entdeckt?

Martin Werlen: Heute! Fast täglich in der Lesung der Heiligen Schrift wird er in mir angesprochen, aber auch durch sonstige Lektüre und Begegnungen.

Was war es heute?

Die verachtende Haltung, die ich in mir bemerkt habe. In Gedanken gebe ich anderen oft keine Chance. Im Festgefahrenen fehlt es an kreativem Mut. Dann beginnt das so lähmende Murrkonzert, das wir wohl alle kennen.

Sie nehmen immer wieder pointiert Stellung – wie viele Freund*innen haben Sie noch in der Kirche?

Viele. In der Kirche gibt es viele Gott suchende Menschen, sogar unter den Bischöfen, die im Heute unterwegs sind. Immer wieder werde ich eingeladen für Impulse und zu Vorträgen. Direkt oder über Umwege darf ich erfahren, dass nicht nur Bischöfe, sondern auch Kardinäle meine Bücher lesen, empfehlen oder verschenken.

Viele Kritiker*innen verlassen die Kirche – weshalb sind Sie noch drin?

Die Kirche ist die Gemeinschaft all jener, die Jesus Christus nachfolgen. Diese Gemeinschaft will ich nicht verlassen. Zusammen mit vielen anderen Menschen will ich Gott suchen, auf dem Weg sein, ringen, mein Leben gestalten.

Sie sprechen von Ringen.

Es ist nicht immer einfach. Ein Mitbruder meinte einmal scherzhaft: «Das Leben im Kloster wäre so schön, wenn nur nicht die Mitbrüder wären!» Der heilige Benedikt nimmt das mit eindrücklichen Worten auf: «Sie sollen gegenseitig zuvorkommend sein. Ihre körperlichen und charakterlichen Schwächen sollen sie mit unerschöpflicher Geduld ertragen.»

Was heisst das für eine Gemeinschaft?

In jeder Gemeinschaft beginnt etwas in dem Moment zu leuchten, in dem ich nicht nur die anderen tragen und ertragen muss – sondern erfahre, dass die anderen auch mich tragen und ertragen. Das ist das Erfahren von Kirche.

«Raus aus dem Schneckenhaus», heisst Ihr neues Buch. Ein Gegenmotto zu Corona?

Joseph Bonnemain hat es am Schluss seiner Weihe zum Bischof von Chur gesagt: nicht um sich selber kreisen, sondern Gott suchen und begegnen – besonders in den Menschen am Rande der Gesellschaft und der Kirche.

Gelebter Glaube?

Genau. Glaube ist nicht das Entwerfen eines Konzeptes und dessen Umsetzung. Glaube ist Leben. Glaube ist Gott suchen im Hier und Heute. Glaube ist nie im idealen Raum, sondern in den konkreten Gegebenheiten.

Wie meinen Sie das?

Unsere Aufgabe ist es nicht, ein System oder eine Institution zu verteidigen, sondern unseren Glauben zu leben. Viele verwechseln leider das System mit Glauben. Draussen bei den Menschen sein, und gleichzeitig drinnen: bei sich, verbunden mit der Quelle.

Wie geht dies zusammen?

Das ist und bleibt ein Spagat. Allerdings ist das Paradox nicht so sehr zwischen draussen und drinnen, sondern zwischen dem Kreisen um sich selbst und dem Gott-suchend-Sein – drinnen und draussen. Das gelingt nur in Gemeinschaft. Sonst ist die Gefahr gross, im Kreisen um sich selbst festgefahren zu bleiben.

Martin Werlen: Raus aus dem Schneckenhaus. Nur wer draussen ist, kann drinnen sein. Herder 2020. ISBN: 978-3-451-39204-7

Der Benediktiner Martin Werlen war von 2001 bis 2013 Abt des Klosters Einsiedeln und des Klosters Fahr sowie Mitglied der Schweizer Bischofskonferenz. Seit August 2020 ist er verantwortlich für die Propstei St. Gerold im österreichischen Vorarlberg. Er hat mehrere Bücher verfasst.

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