Menschlich, christlich ... Vor dem Schneesturm gerettet. Flüchtlingsmädchen in einem Zug in Presevo im serbischmazedonischen
Grenzgebiet, Februar 2016. Foto: Keystone, Visar Kryeziu

Was heisst «christlich» oder «menschlich»?

Der zunehmenden Verunsicherung unter den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern kann nur mit Gesprächen begegnet werden.

Die Abstimmungen vom 28. Februar haben gezeigt, dass viele Stimmbürger verunsichert sind – sei es über die Zuwanderung, die vielfältigen Beziehungsformen oder die Macht des Marktes. Was es jetzt braucht, sind Gespräche, sagt der Sozialethiker Thomas Wallimann-Sasaki* in seinem Kommentar.

Hinter den Abstimmungen an diesem Sonntag sehe ich den Umgang mit grossen Verunsicherungen als gemeinsame Thematik. Dies haben mir zahlreiche Gespräche über die Abstimmungsthemen in den letzten Wochen gezeigt. Die Menschen, die aus dem Ausland in die Schweiz kommen, lösen Gefühle von Angst aus, lassen uns buchstäblich «fremden» und führen zu riesigen Fragen.
Geht es um die weltweite Gerechtigkeit im Nahrungsmittelhandel (Spekulationsinitiative) ist es der Markt, der bei den Befürwortenden Angst, bei vielen andern auch Gefühle der Fatalität auslöst, da man ja doch nichts machen kann.
Bei der Heiratsstrafe sind die einen besorgt um die Ehe als klare Form des Zusammenlebens angesichts der vielfältigen Lebensformen heute, während andere diese Vielfalt befürworten und doch häufig auch unsicher sind, wie wir damit umgehen sollen.
Kein Wunder, dass eine zweite Gotthardröhre handfest für Sicherheit garantiert. Darum spielen auch die Kosten, die sonst fast jedes – v.a. soziale – politische Geschäft «bodigen», keine Rolle.

Wie gehen wir aber mit Verunsicherungen um? Gefühle sind normal und müssen ernst genommen werden. Doch für fundierte Entscheide braucht es neben Bauch eben auch Köpfchen. Die Debatten um die Durchsetzungsinitiative zeigen, dass neben den sachlichen Argumenten und Klärungen der Bezug auf die Wertgrundlage unseres modernen Zusammenlebens unabdingbar ist. Denn «unmenschlich», «unchristlich», «respektlos» – so die ethischen Argumente gegen die Durchsetzungsinitiative – drohen zum Moralfinger zu verkommen, wenn ihnen jetzt nicht die Debatte darüber folgt, was denn «Respekt», «christlich» oder auch «menschlich» bedeutet.
Grundwerte sind keine Naturgesetze. Sie müssen immer wieder neu geklärt und «gesichert» werden. Gerade in Zeiten grosser Verunsicherungen braucht unsere Demokratie darum nicht Siegerinnen und Verlierer, sondern Gesprächspartner. Die Tatsache, dass wir vielleicht alle angesichts der Vielfalt und Kompliziertheit der Entwicklungen heute mehr Fragen als Antworten haben, ist eine Chance, ins Gespräch über gemeinsame Sorgen zu kommen. Daran sollen Diskussionen über Werthaltungen, ihre Geschichte und ihre Bedeutung anknüpfen. Dies kann helfen, die Herausforderungen zu meistern.

Schon die Abstimmungen vom kommenden Juni bieten mehr als genug Gelegenheit dazu. So lohnt es sich, schon heute mit diesen Gesprächen zu beginnen – als Partnerinnen und Partner. Denn unsere Demokratie lebt bekanntlich von der Konkordanz, von Miteinander und Mitgefühl. Dies ist erfolgversprechender als nach Abstimmungen Sieger und Verliererinnen an einen Tisch bringen zu müssen.

*Thomas Wallimann-Sasaki, Sozialethiker, ist Leiter des Sozialinstituts der Katholischen Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer-Bewegung in Zürich

 

Lesen Sie zu den Abstimmungsresultaten auch:

Nein zur Durchsetzungsinitiative: Erleichterung in der katholischen Kirche Zürich, 28.2.16 (kath.ch)
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