Eine «Kultur der Lieblosigkeit» und der «negativen Beziehungen» hat um sich gegriffen, sagt Eva Illouz. Foto: iStock_FilippoBacci.

Was ist guter Sex?

Eine Theologin und eine Soziologin versuchen Antworten.

Soziologin Eva Illouz zeigt: Die Frage drängt. Ein mutiges Buch der Theologin Margaret Farley hilft bei der Suche nach Antworten.

von Jonathan Gardy*

Vorbemerkung
Als Christ und als Seelsorger spreche ich von mir aus nicht über Sexualität. Denn ich stehe unter Verdacht: Zu lange hat die Kirche eine autoritäre Moral gepredigt. Das beschämt mich und viele Christ*innen und lässt uns verstummen. Und doch: Das Christentum birgt auch hier Lebensklugheit – eine Frau beweist es.

Eine bleibende Frage für Christ*innen

Die Überschrift ist bewusst gewählt. Sexualität ist nicht nur ein Thema unter vielen, es heischt Aufmerksamkeit wie kein anderes. Sex sells – kaum eine Werbung kommt ohne Anspielung auf die (männliche und heterosexuelle) Sexualität aus. Ein gelassener, sachlicher Umgang mit diesem doch so grundlegenden Aspekt des menschlichen Wesens scheint unmöglich. Das ist auch eine späte Folge der christlichen Verschämtheit. Scham ist wichtig, denn sie schützt die Intimsphäre. Wenn sie sich aber mit einem Tabu verbindet, haben bald unbewusste Kräfte die Oberhand. Worüber nicht gesprochen wird, darüber findet auch keine Reflexion statt. So bleibt die Sexualität der ethischen Überlegung weitgehend entzogen: Heute gilt Sex als akzeptabel, wenn er einvernehmlich geschieht und niemandem schadet. Das ist aber nicht mehr als eine Bedingung. Was die «schönste Sache der Welt» auch wahr und gut sein lässt, bleibt offen.

Eine drängende Frage unserer Zeit: Eva Illouz

Das Feld der sexuellen Kultur wird kaum mit den Werkzeugen der Ethik bestellt. Welche Kräfte hier stattdessen bestimmend geworden sind, hat die israelische Soziologin Eva Illouz herausgearbeitet. In ihrem Werk «Warum Liebe endet» beschreibt sie, wie die kapitalistische Denk- und Handlungsweise den Bereich der Sexualität und der sexuellen Beziehungen nach 1968 vereinnahmt hat: Menschen sammeln sexuelle Erlebnisse um damit ihren «sozialen Wert» zu erhöhen; Sex ist für sie ein Konsumgut geworden und die nötigen Partner*innen blosse Mittel zum Zweck; diese werden nicht als Individuen wahrgenommen, sondern miteinander verglichen und auf ihren «Marktwert» taxiert. Vergleich und Tausch sind dank Apps wie Tinder jederzeit und effizient möglich. Gefühle und Sexualität haben sich entkoppelt; eine «emotionale Ungewissheit» greift um sich, die auch stabil gewollte Partnerschaften brüchig werden lässt.

Die Folge: Tiefe, andauernde, bedeutsame Beziehungen – obwohl immer noch ersehnt – werden vermieden oder früh aufgekündigt. Das «Nein» zur einen Partner*in rettet die Wahlfreiheit gegenüber den anderen Kandidat*innen: So behauptet sich das Ich unter Marktbedingungen. Eine «Kultur der Lieblosigkeit» und der «negativen Beziehungen» (Illouz) hat um sich gegriffen. Einsamkeit breitet sich aus. Welches Leid hinter dieser neuen Beziehungskultur steht, wird in den Interviews fassbar, die Illouz mit Menschen aus verschiedenen westlichen Ländern geführt hat. Es ist ein erschütternder soziologischer Befund: Menschen würdigen einander unbewusst zu Konsumobjekten herab – und was Nähe und Beziehung verspricht, führt nur zu mehr Vereinzelung. Sexualität ist eine Art der Selbstbehauptung geworden: effizient, kalt, entfremdend. Nicht gerade das, was an «guten Sex» denken lässt. Eva Illouz‘ Analyse zeigt: Die Frage nach einer Ethik der Sexualität drängt.

Eine kluge Antwort: Margaret Farley

Die Yale-Professorin Margaret Farley hat ein Buch geschrieben, in dessen Titel bereits ein Teil der Antwort aufscheint: «Just Love» («nur/gerechte Liebe») ist eine Wohltat für jede*n Leser*in, welche*r eine so intellektuell redliche wie lebensnahe Wortmeldung zum Thema begehrt. Farley begegnet kultureller Vielfalt ebenso vorurteilsfrei wie Themen rund um LGBTQI+. Die US-Amerikanerin nimmt die Autonomie des Menschen ernst und traut ihm eigene Urteile zu. Sie, die Ordensfrau, hat eine spürbar positive Grundeinstellung zum Thema Sex.

Farley stellt ihre Sexualethik in den grösseren Kontext der «gerechten Liebe». Gerecht ist Liebe, wenn sie den Realitäten der Personen und der Natur ihrer Beziehung entspricht. Das bedeutet für Sexualität: Sie ist gut und «gerecht», insofern sie den beteiligten Personen und ihrer Beziehung angemessen ist. Damit verbietet sich von vornherein eine konsumistische Verzweckung. Vorbedingung für gemeinsame Sexualität ist zwar nicht einfach die Ehe, wohl aber eine personale Beziehung. Hier zeigt sich die Weite des Entwurfs, der zugleich nicht in Beliebigkeit verfällt.

Sieben konkrete Normen

Denn es braucht einiges, um einander als Sexualpartner*Innen gerecht zu werden. Farley formuliert sieben ethische Normen, an denen ein Mensch sein sexuelles Handeln selbstbestimmt ausrichten kann: Unversehrtheit, Einvernehmlichkeit, Gegenseitigkeit, Gleichheit, Verbindlichkeit, Fruchtbarkeit (im weiten Sinn), Soziale Gerechtigkeit. Letztere macht innovativ deutlich, dass Sexualität nicht nur Privatsache ist. Auch die Gesellschaft muss jedem Menschen hinsichtlich seiner Sexualität gerecht werden und beispielsweise vor Diskriminierung und Gewalt schützen.

Mit sanfter Überzeugungskraft

Margaret Farleys Entwurf für eine neue Sexualethik wurde bald nach Erscheinen von der vatikanischen Glaubenskongregation verurteilt: «Just Love» stünde in direktem Widerspruch zur katholischen Lehre. Doch hat das Buch mehr Autorität als manche offizielle Äusserung. Nicht, weil die Autorin Macht beanspruchen könnte. Sondern weil ihren Gedanken Wohlwollen und Empathie anzumerken ist, weil ihre Positionen sorgfältig begründet sind und sie subjektiv als wahr und sinnvoll empfunden werden können. «Just Love» erweist sich als wichtige Wortmeldung in einer Zeit, die zwar stark sexualisiert ist, aber erst langsam beginnt, ihre sexuelle Kultur zu reflektieren und zu entwickeln. Für Margaret Farleys Beitrag dazu brauchen sich Christ*innen für einmal nicht zu schämen.

Jonathan Gardy* ist Theologe in der Pfarrei Guthirt, Ostermundigen

Buchhinweise:

Eva Illouz: Warum Liebe endet. Eine Soziologie negativer Beziehungen, Suhrkamp 2020, ISBN: 978-3-518-29918-0

Margaret A. Farley: Verdammter Sex. Für eine neue christliche Sexualmoral, Theiss 2-2019 (engl. Originaltitel: Just Love. A Framework for Christian Sexual Ethics), ISBN 978-3-8062-2985-1

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