Und siehe da … Foto: unsplash.com

Wie ist das möglich?

Eine Kolumne der Seelsorger*innen am Inselspital Bern. Von Barbara Moser.

 

Da lebt ein Mann seit vielen Jahren ohne Nahrungsaufnahme. Das heisst, er kann seit fast zehn Jahren nicht mehr essen. Die lebensnotwendige Nahrung wird durch einen künstlich angelegten Zugang direkt in den Magen geführt. Der Patient hat sich dafür entschieden, als er mit einem Tumor des Mundhöhlenbereiches konfrontiert worden ist.

Nun steht erneut eine Entscheidung an. Ich werde gerufen, weil die Pflegende den Patienten nur mit grösster Mühe verstehen kann. Durch die Tumorentfernung fiel neben der natürlichen Nahrungsaufnahme auch die verbale Kommunikation zum Opfer. Der Mann hat nicht gelernt, sich per Handzeichen oder schriftlich auszudrücken. Ihm steht bloss ein unverständliches Gestammel zur Verfügung. Und jetzt soll er sich äussern, ob er einen im Darm liegenden Tumor entfernen lassen will oder nicht.

Ich begrüsse den Patienten und teile ihm mit, dass ich so zuzusagen als Mithörerin involviert worden bin. Er weiss, dass ich komme, und scheint erfreut zu sein. Welch hohe Erwartungen! Weder kann ich Lippenlesen noch habe ich Jesuanische Fähigkeiten. Jesus berührte, so steht im Markusevangelium, die Zunge eines stummen Mannes mit Speichel und seufzte und sprach öffne dich, worauf sich die Zunge löste und er wieder richtig sprechen konnte.

Innert kürzester Zeit stelle ich fest, dass ich trotz grösster Anstrengung kaum etwas verstehen kann. Zwar kann ich mittels geschlossenen Fragen ein paar familiäre Dinge erfahren, aber die Meinung des Patienten bezüglich der allfälligen Operation bleibt ungeklärt.

Lass den Mann einfach erzählen, durchfährt es mich, ohne Anspruch ihn verstehen zu müssen. Völlig entspannt und doch aufmerksam sitze ich da und höre dem Patienten lange zu. Ich folge seinen Augen, den wild gestikulierenden Armen, der Faust, die ab und zu auf die Matratze fliegt, den Augenbrauen, die sich hochziehen und wieder entspannen, ich folge den verschiedenen Tempi des Redeflusses, den lauten und leisen Tönen. Auf einmal kehrt Ruhe ein.

«Darf ich Ihnen einen Engel schenken?» Der Patient zögert, stimmt dann zu. Ich lese einen «B» von seinen Lippen ab. «Ein Engel für den Bengel», frage ich nach. Jawohl, er nickt und muss lachen. Ich schlage vor, nun die zuständige Pflegende beizuziehen, damit wir zu dritt die mögliche Operation besprechen können.

Und siehe da, wie ist das möglich? Der Mann formuliert drei W-Fragen und wir verstehen sie klar und deutlich. Wer operiert wann und wie? Sogleich bringen wir die Fragen gut leserlich auf Papier, sodass der Patient sie im Arztgespräch vorlegen kann. Später lese ich im Pflegebericht. Der Patient sei entspannt und zufrieden. Er habe die Zuwendung der Seelsorge und Pflege sehr genossen.

Barbara Moser, ref. Pfarrerin und Seelsorgerin

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