V.l. Jesuitenpater Guido Bertagna, Andrea Coi, Milani und Ceretti sind ja nur unscharf zu sehen. Im Saal der Fachhochschule für Soziale Arbeit wurde es still, als der ehemalige Brigadist Andrea Coi über seine langjährige Haft und seinem Wunsch nach Versöhnung erzählte. Foto: Oliver Slappnig, bfh

«Wir hatten unsere Seelen versteinert»

Opfer und Täter erzählten am Podiumsgespräch in der Berner Fachhochschule aus der Zeit des italienischen Terrorismus und wie sie auf dem Weg der Versöhnung die Menschlichkeit entdeckt haben.

Rund 150 Gäste kamen Ende März für ein besonderes Gespräch in den Saal der Berner Fachhochschule für Soziale Arbeit: Unter dem Titel «Wege der Versöhnung» berichteten Teilnehmende des Mediationsteams der «Lotta armata» (Italienisch für «bewaffneter Kampf», u. a. Rote Brigaden). Sie erzählten von der «bleiernen Zeit» zwischen 1969 und 1980 in Italien und wie sie auf dem Weg der Versöhnung die Menschlichkeit entdecken.


Mit dem Aufbegehren der Studenten Ende der 60er-Jahre gegen autoritäre Strukturen an Universitäten und schlechte Studienbedingungen wurde eine Gewaltlawine in Europa losgetreten, die viele Opfer forderte.
Alleine in Italien gab es 14 000 Anschläge, rund 2000 Verletzte und 428 Tote. Viele Gewalttaten sind bis heute nicht aufgeklärt, doch Opfer wie Täter bilden Mediationsgruppen mit dem Ziel der Versöhnung.

Mediatorin und Dozentin Katharina Haab-Zehré und Mediatorin und Supervisorin Consolata Peyron führten durch den aussergewöhnlichen wie beklemmenden Abend, der einen Lichtschimmer der Versöhnung aufblitzen liess.

Adolfo Ceretti, heute Professor für Kriminologie an der Università di Milano-Bicocca promovierte gerade, als sein Doktorvater und Richter bei Prozessen gegen die Roten Brigaden 1980 vor dem Gerichtssaal erschossen wurde. Das habe ihm persönliche wie politische Wunden zugefügt, die ihn als Kriminologen motivierten, Täter und Opfer an einen Tisch zu bringen. Ceretti hat auch schon in Israel/Palästina und in Südafrika bei Mediationsprojekten mitgewirkt.

Andrea Coi gehörte ab 1975 der bewaffneten Gruppierung der Roten Brigaden an und wurde 1979 zu 30 Jahren Haft verurteilt. Sein Studienort Turin sei ein politisch heisses Pflaster gewesen. Er habe sich einen ideologischen Panzer aufgebaut, den er gebraucht habe, um weiterzukämpfen. «Wir hatten das Gefühl, unser ganzes Engagement ende an einer Gummiwand. Nichts bewegte sich», erzählte der gebürtige Sarde: «Dieses an der Wand stehen liess uns immer gewalttätiger werden – bis hin zu Anschlägen und Mord.»

Acht Jahre habe er in seiner Zelle und auch in seinem Panzer gesessen, bis er begriff, dass die Methoden der Roten Brigaden keine politischen Antworten liefern. «Es war nicht einfach aus dem Panzer herauszukommen!» Ein Pater habe ihn auf diesem Weg begleitet. «Die Taten sind mit Haft nicht zu büssen», erklärt Andrea Coi: «Aber mein Wunsch die Opfer zu treffen und konstruktiv meine Schuld anzugehen, wurde immer stärker.»

Doch noch hatte er das Gefühl bei solchen Treffen nur Wunden aufzureissen auf Kosten der Leidtragenden. Im Jahr 2007 dann habe er einem Opfer geschrieben und um ein Treffen gebeten. In der Mediationsgruppe wurde ihm nach und nach klar: «Wir hatten unsere Seelen versteinert und unsere Opfer objektiviert. Und dann entdeckte ich ihr Menschsein.» Ein dunkles Kapitel der italienischen Geschichte erhielt 2015 endlich Konturen. Viel zu spät, aber immerhin.

41 Jahre nach dem Attentat auf die ¬Piazza della Loggia im norditalienischen Brescia hat ein Mailänder Berufungsgericht zwei Rechtsextremisten zu lebenslanger Haft verurteilt. Carlo Maria Maggi, ein nun über 80 Jahre alter Arzt aus Venedig, damals Chef der neofaschistischen Terrorgruppe Ordine Nuovo, hatte demnach das Attentat organisiert.

Manlio Milani ist Betroffener dieses Anschlags und Präsident der Casa della Memoria Brescia. Er betonte in der Gesprächsrunde, dass die Toten nun nach dem Urteil endlich ihren Frieden finden können. Milani schloss sich der Mediationsgruppe an, weil er sich immer fragte: «Wer sind diese Menschen, die so etwas machen? Sind das Monster?»

Er wäre in dieser Zeit selbst in einer linken Gruppierung tätig gewesen, um gegen Ungerechtigkeiten zu kämpfen. In der Gewerkschaft habe er gelernt sich mit Menschen auseinanderzusetzen. Gewalt sei für ihn nie in Frage gekommen, allenfalls in der Sprache. Er habe aber gewusst, wenn er sich seiner schmerzlichen Erinnerungen nicht stelle, bleibe er in der Opferrolle. Milani fragte sich, was mehr weh tut: Sein Schmerz oder ihr Schmerz? Verletzung oder Schuld?

«In der Mediationsgruppe stelle ich meine Identität zur Verfügung und nehme die Identität des Täters auf.» Es helfe zu verstehen, wie es zur Gewalt kam. Und es gehe vor allem darum Menschlichkeit zu entdecken. Die Mediationsgruppe veranstaltete bereits rund 50 öffentliche Gesprächsabende in Italien und ist auch in Deutschland unterwegs. Nicht hoch genug kann die Leistung der Dolmetscherin Cecilia Frati angesehen werden. Ihre Übersetzungen vom Italienischen ins Hochdeutsche mit solch brisanten wie sehr persönlichen Bekenntnissen machten es dem Publikum leicht, sich in die Materie einzufühlen.

Mit der Podiumsdiskussion «Wege der Versöhnung» in der Fachhochschule für Soziale Arbeit traten die Beteiligten zum ersten Mal in der Schweiz auf, weitere Veranstaltungen sollen folgen.

Christina Burghagen

 

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