"Früher konnte man mit den Behörden noch reden", sagt Anny Hug, Mit-Initiantin der Flüchtlingsgruppe. Foto: Jonathan Liechti

«Wir sind doch schliesslich in der Kirche!»

Die ökumenische Flüchtlingsgruppe Ostermundigen

In den 1980er Jahren war die Integration von Flüchtlingen noch Pionierarbeit. In Ostermundigen engagierten sich die Kirchen hier stark. Nach 35 Jahren beendet diese ökumenische Gruppe nun ihre Tätigkeit.

Interview: Sylvia Stam


«pfarrblatt»: Weshalb haben Sie 1986 eine Flüchtlingsgruppe lanciert?

Anny Hug: Migrant*innen bekamen damals eine Wohnung, wurden aber weiter sich selbst überlassen. Ich schlug darum in einer Mutter-Kind-Gruppe der Pfarrei Guthirt vor, eine tamilische Mutter aus meiner Nachbarschaft mit ihren Kindern mitzubringen. Das kam zuerst gar nicht gut an. Ich war entsetzt: Wir waren doch schliesslich in der Kirche! Dieses Erlebnis war einer von mehreren Auslösern, eine ökumenische Gruppe zur Integration von Flüchtlingen zu gründen.

Was war ein anderer Auslöser?

Eines Tages sah ich am Bahnhof eine Klasse auf Schulreise. Die meisten Kinder hatten ihren Rucksack dabei, zwei tamilische Kinder jedoch nur einen Plastiksack. Die Kinder taten mir Leid. Hatte ihnen denn niemand gesagt, wie man bei uns auf eine Schulreise geht?

Sie haben dann Migrant*innen im Alltag begleitet. Wie kam der Kontakt zustande?

Über Sozialdienste oder Schulen, die uns mitteilten, welche Personen froh über eine Begleitung wären. Später gab es in Ostermundigen eine Asylunterkunft. Wir spielten dort mit den Kindern, damit ihre Eltern einen Nachmittag durchatmen konnten. Viele waren heillos überfordert mit ihrer Situation.

An welche besonderen Momente erinnern Sie sich?

1993 gewährten sieben Berner Kirchgemeinden Familien aus dem Kosovo Kirchenasyl. In Ostermundigen haben wir auch mitgemacht: In der Pfarrei Guthirt wohnte eine Familie mit vier Kindern. Gegen 50 Personen beider Kirchen haben mitgeholfen bei der Gestaltung des Alltags der Familie oder mit Spenden. Auch solche, die man lange nicht in der Kirche gesehen hatte. Hier kam für uns zum Ausdruck: Das ist Kirche. Die Behörden haben später eingelenkt, die Familien wurden nicht ausgeschafft.

 

 

Anny Hug (72) ist Sozialpädagogin, sie leitete bis zur Pensionierung die Kita im Inselspital Bern.

Foto: Jonathan Liechti

 

 

 


Hat sich die Zusammenarbeit mit den Behörden im Verlauf der Jahre verändert?

Früher konnte man noch reden mit den Behörden, wir konnten Stellung beziehen. Heute sind die Fronten härter geworden. Als 2011 einer iranischen Familie mit zwei Söhnen die Ausweisung drohte, haben wir eine Unterschriftensammlung gestartet und Briefe an die Härtefallkommission geschickt. Die Familie durfte schliesslich bleiben. Die Söhne, die in der Schule Bestnoten hatten, fühlen sich hier zu Hause. Der eine ist heute Polymechaniker, der andere studiert an der Fachhochschule für soziale Arbeit.

Gab es auch Rückschläge?

Zwei Angolaner wurden ausgeschafft, obschon man wusste, dass sie gefährdet waren. Einer wurde getötet, der andere kam später traumatisiert in die Schweiz zurück. Auch die Begleitung der Familien war nicht immer leicht, darum haben wir uns monatlich zu Austausch und Reflexion getroffen.

In den letzten 20 Jahren war Deutsch-Unterricht das Kerngeschäft.

Mehr und mehr haben die Gemeinden die Integrationsarbeit übernommen. In der Pfarrei haben wir dann zuerst einen Kaffeetreff organisiert. Hier wurde deutlich, dass die Migrant*innen Deutschunterricht wünschen. Wir fingen mit einer Klasse wöchentlich an, zuletzt waren es sechs Gruppen. Später kam ein Kinderhütedienst dazu, damit die Mütter den Unterricht besuchen konnten.

War das alles kostenlos?

Die Pfarrei hat uns die Räume kostenlos zur Verfügung gestellt. Die reformierte Kirchgemeinde hat uns einen Beitrag gegeben, mit dem wir Unterrichtsmaterial bezahlt haben. Die Freiwilligen arbeiteten ehrenamtlich. Der Deutschkurs war zuerst kostenlos, später haben wir dafür 40 Franken pro Jahr verlangt. Das Geld wurde für gemeinsame Projekte wie die Jahresendfeier eingesetzt.

Die Migration nimmt nicht ab, dennoch löst sich Ihre Gruppe auf. Weshalb?

Das Thema ist heute in der Öffentlichkeit zum Glück sehr präsent. Corona hat den Unterricht unmöglich gemacht, die Migrant*innen mussten sich anders organisieren. Das war für uns, die wir alle schon älter sind, ein Anlass, mit gutem Gefühl aufzuhören.

 

 

35 Jahre ökumenisches Engagement
Die Ökumenische Gruppe zur Integration von Flüchtlingen war von 1986 bis März 2021 in der Pfarrei Guthirt und der evangelisch-reformierten Kirchgemeinde Ostermundigen aktiv: Begleitung von Familien im Alltag, Spielnachmittage für Kinder, Gewährung von Kirchenasyl, Deutschkurse mit Kinderbetreuungsdienst, Jahresendfeiern, Stand mit kulinarischen Spezialitäten am Herbst-Märit, Gestaltung von ökumenischen Gottesdiensten zum Flüchtlingssonntag. Die Gruppe hatte zwischen 12 und 50 Mitglieder, zuletzt rund 20.

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