Wo Religion und Psychologie verschmelzen

Wenn Therapeut*innen an Grenzen stossen

Was haben Religion und Psychologie gemeinsam? Was unterscheidet sie? Kann man das eine mit dem anderen ersetzen?

Von Helen Hochreutener*

In den Religionen geht es um gelebte Darstellungen von der Beziehung zwischen Menschen und einer Transzendenz, im Christlichen zu Gott. Dabei geht es oft um Kultur als Gestaltung der Lebenswelt, um Rituale, Lebenshilfe und Ethik – also um die Frage, wie man ein gutes Leben führen kann. Es geht auch um den Rückbezug auf das «Woher» und das «Wohin» der Menschen und der Welt. Dieser Rückbezug gibt Halt, Lebenssinn und Orientierung.

Die Psychologie hingegen hat eine andere Aufgabe. Als wissenschaftlich fundierte Lehre von der Seele (griech. «psyche», engl. «mind») befasst sie sich mit dem «Wie» eines wissenschaftlich fundierten psychischen Prozesses, der in gewissen vorgegebenen Prämissen reproduziert werden kann. Mit empirischen Methoden findet man Sachverhalte, die regelmässig auftreten und dem Prinzip von Ursache und Wirkung folgen. Mit Psychotherapie kann man seelisch leidenden bzw. kranken Menschen helfen. Eine der verschiedenen Schulen, die Psychoanalyse nach Sigmund Freud und Carl Gustav Jung, zieht das Unbewusste mit ein, während die kognitive Psychotherapie auf Willen und Wissen basiert und auf Gesprächen aufbaut. Durch Einsicht können viele Probleme in persönlichen Gesprächen gelöst werden. Die systemische Psychotherapie wiederum befasst sich mit der Verbesserung von Beziehungen in Systemen wie Familie, Schule oder Arbeit. Diese sind für die menschliche Entwicklung und Reifung wichtig, doch manchmal geht da Einiges schief.

Spiritualität als Ressource

Die oben genannten Psychotherapien sind innerweltlich orientiert und haben keinen Bezug zu Gott. In der humanistischen Psychotherapie arbeitet man bewusst mit der Transzendenz und vertraut auf Gott. An dem Punkt, wo Therapeut*innen an Grenzen stossen, übergeben sie die Sache Gott, ganz nach dem Motto: Ich mache alles mir Mögliche und überlasse Gott das Vollenden. Ein prominenter humanistischer Psychotherapeut war Viktor Frankl. Um das KZ zu überleben, setzte er das Vertrauen auf Gott an erste Stelle. Als KZ-Überlebender machte er diese Erfahrung für seine Patient*innen fruchtbar und entwickelte die Logotherapie: Wenn Menschen an ihre Grenzen stossen, übergeben sie alles Weitere bewusst an Gott oder eine spirituelle Dimension. Dieses Übergeben wirkt heilend, stiftet Sinn und gibt Halt und Orientierung. Spiritualität erweist sich so in widrigen Lebensumständen als Ressource respektive starker Resilienzfaktor. Für die WHO ist Gesundheit nicht die Abwesenheit von Krankheit, sondern Wohlbefinden im biopsychosozialen und spirituellen Bereich. Die spirituelle Dimension gehört bewusst zum Mensch-Sein dazu. Einige psychosomatische Kliniken und auch die Anonymen Alkoholiker arbeiten mit spirituellen Konzepten, bei denen man sich, bei eigenen Grenzen angelangt, bewusst Gott anvertraut.

Die Weisheit der Wüstenväter

In der Antike lebten die Wüstenväter als Eremiten in der Wüste. Sie kannten die häufigsten psychischen Störungen bereits. Evagrius Ponticus, der Begründer der Achtlasterlehre, war einer von ihnen. In seinem Buch «Praktikos» hält er fest, dass acht Gedanken – Zorn, Wollust, Trägheit, Prahlerei usw. – den spirituellen Weg in der Abgeschiedenheit befallen können, und er weist an, wie sich Mönche verhalten sollen, um diese zu überwinden. Die Kunstgeschichte hat sich diesem «geistigen Kampf» in immer neuen Variationen angenommen.

In seinem Buch «Die Wüstenväter als Therapeuten» setzt der Psychiater Daniel Hell diese alten Erkenntnisse mit der heutigen Psychopathologie in Beziehung. Auch das jahrhundertealte Enneagramm zeigt auf, wie der Mensch spirituell und psychisch reifen kann. Meditation und Kontemplation im Alltag und Exerzitien nach Ignatius von Loyola sind weitere Beispiele dafür, dass Religion und Psychologie miteinander verwoben sind. Exerzitien richten den Blick zuerst ganz auf Gott aus. Der Mensch erfährt sich als getragen von Gott. Danach fängt die psychologische Biografiearbeit an. Das schafft Raum für innere Freiheit und bewusste Entscheide, sowohl für eigene nachhaltige Freude und inneren Frieden sowie für gesellschaftliches Gemeinwohl und Gerechtigkeit.

 

*Helen Hochreutener ist Ärztin mit MAS in Theology Spirituality

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