In Erinnerungen kramen: Was ist in meinem Leben alles passiert, was hinterlasse ich? Foto: funnyworld/photocase

Zehn Fragen für eine Kurzbiografie am Ende des Lebens

Es geht um Würde in der «Dignity Therapy». Gezieltes Fragen soll helfen, zu erkennen, dass man wertvoll ist und ein gutes Leben geführt hat. Alle, ohne Ausnahme.

Medizinerinnen und Mediziner sprechen über die Rettung von Leben, der allgegenwärtige Tod jedoch ist häufig ein Tabu. Für Patienten, die über das Sterben sprechen wollen, ist am Zürcher Universitätsspital das Pilotprojekt «Dignity Therapy» angelaufen.

Darin werden Schwerkranke nach den wichtigsten Inhalten ihres Lebens befragt, und das Gespräch wird schriftlich festgehalten. Das Dokument wird damit zum immateriellen Erbe des Verstorbenen.

Über den Tod sprechen Ärztinnen und Ärzte bis heute ungern. Sie unterstützen die Hoffnung der Patientinnen und Patienten, geheilt nach Hause zu gehen. Dass dem nicht immer so ist und die Kranken mit dem Tod konfrontiert sind, ist oft Realität, wird aber selten angesprochen. Vielmehr propagieren die Ärzte eine Verbesserung der Symptome oder die Hoffnung auf ein Wunder.

Die Frage nach dem Umgang mit dem Tod wird wohl oft aus Hilflosigkeit der Mediziner vermieden, wäre aber oft ein grosses Bedürfnis der Sterbenden und ihren Verwandten. Sie möchten sich vorbereiten, in Würde sterben und Spuren guter Erinnerungen hinterlassen. Der Patient oder die Patientin soll sich nicht nur als Person mit einer Krankheit fühlen, sondern als Persönlichkeit mit einer Geschichte.

«Dignity» steht für Würde

Das Zürcher Universitätsspital hat nun ein Pilotprojekt lanciert, welches diesem Bedürfnis entgegenkommen soll. Das in Kanada entwickelte Programm «Dignity Therapy» bietet Sterbenden mit zehn Fragen ein Gespräch für einen Rückblick auf alle vergangenen Lebensjahre an. Mit dieser Therapie können sich die Befragten ihrer Vergangenheit stellen und das Wagnis eingehen, über das Sterben nachzudenken.

Projektleiter und Professor Josef Jenewein, stellvertretender Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, erläutert: «Das Gespräch ermöglicht den Patienten, über den Tod bzw. das, was nachher kommen könnte, zu sprechen. Viel Belastung und Stress fallen dadurch weg, was wiederum die Lebensqualität in den letzten Wochen oder Monaten verbessern kann.»
Das Gespräch über das Leben und den Tod könne genauso eine Option sein wie ein medizinisches Angebot. Diese Gespräche haben auf den ersten Blick grosse Ähnlichkeit mit der Seelsorge oder Palliativangeboten, gehen aber laut Jenewein weiter: Spirituelle Gedanken spielten in dieser Therapie sicher auch eine Rolle, aber eben nicht nur.

Über das Spirituelle hinaus

Es gehe darum, das Leben gesamthaft in wenigen Worten auf den Punkt zu bringen. «Um dies durchzuführen, braucht es auch psychotherapeutische Fähigkeiten. Da kann Trauer auftreten, Wut über Dinge, die man nicht erreicht hat. Die Kunst für uns Psychotherapeuten liegt darin, dies aufzufangen und zu kanalisieren, damit die Sterbenden ihre Geschichte abschliessen können.»

Profil als Person mit Geschichte

Das Universitätsspital Zürich testet diese Therapie als erstes Spital in der Schweiz. Nach 30 Gesprächen wollen die Verantwortlichen dieses Pilotprojekts Bilanz ziehen. Auch beim ausgefüllten Leben einer 90-jährigen Person seien die zehn Fragen ausreichend, um die wichtigsten Aspekte ihres Lebens erfassen zu können, ist Jenewein überzeugt.
Dieses strukturierte Interview geht beispielsweise folgenden Fragen nach: Worauf sind Sie besonders stolz? Wann fühlten Sie sich am lebendigsten? Was hat das Leben Sie gelehrt? Was möchten Sie gerne weitergeben? Alle diese Fragen könnte man sich jederzeit und immer wieder stellen, doch am Lebensende werden sie zwingender.

«Es ist besonders wichtig, diese Lebendigkeit noch einmal zu aktivieren», erklärt Jenewein. Ein zentrales Thema sind immer wieder die Beziehungen in der Familie und zur Umwelt. Viel Dankbarkeit schimmert durch, auch bei schwierigen Beziehungen. Eindrücklich sei, wie gnadenlos Patienten mit sich selbst an ihrem Lebensende umgehen können und eigene Fehler eingestehen. Ein häufiger Satz sei auch, dass man den Hinterbliebenen alles Gute wünsche.

Die vielleicht wichtigste Frage kommt zum Schluss: Wie hätte ich gerne, wie man sich an mich erinnert? Das Gespräch wird aufgenommen, transkribiert und schliesslich als rund fünf- bis sechsseitiges Dokument dem Patienten vorgelegt. Laut Jenewein muss es inhaltlich korrekt und taktvoll formuliert sein. «Die Patienten sollen eine positive und versöhnliche ‹Geschichte› ihres Lebens entwickeln, was ihnen auch ein Gefühl von Würde und Zufriedenheit vermittelt.»

Das Protokoll des Gesprächs mit biografischem Charakter dient nicht zuletzt auch den Hinterbliebenen als immaterielles Testament und nachhaltige Erinnerung. Hat dieses positive Gefühl am Lebensende Auswirkung auf den Wunsch auf einen baldigen Tod oder gar einen assoziierten Suizid mit  photocaseExit? Laut Jenewein existieren diesbezüglich keine Resultate. Er rechnet jedoch damit, dass sich durch die «Dignity Therapy» ein solcher Wunsch reduzieren lässt.

Definitive Einführung vorgesehen

Von den 30 Probanden fehlen derzeit noch vier bis fünf. Schwierig stellte sich laut Jenewein jeweils die Suche nach Patientinnen und Patienten heraus, denn oft hoffen die Schwerkranken auf ein Wunder und wollen sich diesen Fragen gar nicht stellen. «Man darf nicht zu früh und nicht zu spät kommen.» Am besten eignen sich gemäss Fachjargon «Personen mit eingeschränkter Lebenserwartung». Gemeint sind damit rund sechs Monate.

Laut Jenewein kamen bisher ausschliesslich positive Rückmeldungen, obschon die körperliche oder emotio- nale Verfassung sehr unterschiedlich ausfiel. Nach dem Ende des Pilotprojekts plant das Universitätsspital, die «Dignity Therapy» definitiv einzuführen, und zwar als Teil der Palliativabteilung. «Zudem überlegen wir uns, diese Therapie auch auf Demenzkranke auszuweiten, solange sie noch klare Erinnerungen an ihr Leben haben», führt Jenewein aus. Auch hier ist die Absicht offenkundig: Der oder die Person mit einer Demenz soll den Angehörigen und Freunden nicht als Kranker, sondern als Mensch mit Geschichte in Erinnerung bleiben.

Hannah Einhaus

 

«Dignity Therapy»: Fragenkatalog
1. Erzählen Sie mir ein wenig von Ihrem Leben, besonders die Teile, an die Sie sich am meiten erinnern oder die Ihnen wichtig sind.
2. Wann fühlten Sie sich am lebendigsten?
3. Gibt es bestimmte Dinge, die Ihre Familie wissen soll und gibt es bestimmte Dinge, an die sich Ihre Familie erinnern soll?
4. Was sind die wichtigsten Rollen, die Sie in Ihrem Leben wahrgenommen haben (in der Familie, beruflich, gesellschaftlich)? Weshalb waren diese wichtig für Sie und was denken Sie, haben Sie in diesen Rollen erreicht?
5. Was sind Ihre wichtigsten Leistungen, worauf sind Sie besonders stolz und woran denken Sie mit der Befriedigung, etwas geleistet zu haben?
6. Gibt es Dinge, die gegenüber Ihren Angehörigen ausgesprochen werden sollten, oder Dinge, die Sie Ihnen noch einmal sagen möchten?
7. Was sind ihre Hoffnungen und Träume für die Menschen, die Ihnen am Herzen liegen?
8. Was hat das Leben Sie gelehrt, das Sie gerne weitergeben möchten? Welchen Rat würden Sie gerne weitergeben wollen?
9. Gibt es Worte oder Ratschläge, die Sie Ihrer Familie gerne sagen möchten?
10. Gibt es Dinge, die Sie für dieses Dokument noch festhalten und hinzufügen möchten?

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Josef Jenewein, Professor und Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Stellvertretender Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsspital Zürich. Foto: zVg _____________________________________________________________________________

Würde bewahren

Untersuchungen zeigen, dass Schmerzen ein wichtiger Grund sind, warum schwerkranke Menschen sterben möchten oder gar den Wunsch nach Sterbehilfe äussern. Als noch viel wichtigerer Grund für den Sterbewunsch wird aber der Verlust der Würde angegeben. Motive wie Hoffnungslosigkeit, Sinnlosigkeit oder das Gefühl, anderen zur Last zu fallen, werden ebenfalls genannt. Hier setzt die «Dignity Therapy» (Würdetherapie) an.
Eine psychotherapeutische Kurzintervention mit dem Ziel, das Empfinden von Würde und Sinnhaftigkeit zu stärken. In drei bis vier Sitzungen innerhalb kurzer Zeit werden Fragen zum eigenen Leben, zu den Beziehungen zu den Angehörigen, zu den sozialen Rollen bearbeitet. Eine Art Lebensrückblick. Ein Dokument wird erarbeitet, das gleichsam als Vermächtnis dienen soll.

Patientinnen und Patienten, die eine solche Therapie gemacht haben, berichten von hoher Zufriedenheit, von einem erhöhten Gefühl an Würde, Lebenssinn und Zielgerichtetheit. Gerade durch den Aspekt der Generativität. Es wirkt sich offenbar positiv aus, wenn ich weiss, dass ich die nächste Generation anleiten kann, dass ich etwas Dauerndes oder Transzendentes nach meinem Tod hinterlassen kann. Darin liegt Trost und Kraft. Die Würdetherapie wurde vom kanadischen Psychiater H.M. Chochinov und seiner Forschungsgruppe 2005 entwickelt.

Andreas Krummenacher

 

 

 

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