Sr. Marthe-Françoise Bammert lebt seit 22 Jahren in der Villa Maria in Bern. Foto: Andreas Krummenacher

Zuhören, verstehen, mittragen

Vor 50 Jahren hat Sr. Marthe-Françoise Bammert ihre Gelübde abgelegt. Ein Besuch in der Villa Maria in Bern.

Vor 50 Jahren hat Sr. Marthe-Françoise Bammert bei den Oblatinnen des heiligen Franz von Sales das Ordensgelübde abgelegt. Sie lebt in der Villa Maria in Bern, zusammen mit fünf Mitschwestern. Sie betreiben spezielle Sozialarbeit.

Von Andreas Krummenacher

«Seit ich weiss, dass Sie kommen, habe ich jeden Tag für Sie gebetet, dass es ein gutes Gespräch wird. Wir machen so vieles selbstverständlich. Was aber sind wir? Wir sind eine kleine Feder in der Hand Gottes. Gott ist immer und überall gegenwärtig.» Das sind die Begrüssungsworte von Sr. Marthe-Françoise Bammert. Sie sind bezeichnend für die Ordensfrau, die eben ihr 50-jähriges Professjubiläum feiern konnte. Das Gespräch findet in der Villa Maria in Bern statt. Seit 22 Jahren lebt sie nun ununterbrochen hier, als 16-Jährige hat sie hier ein Volontariat gemacht. Eigentlich wollte sie Krankenschwester werden, nun ist sie Ordensfrau, Oblatin des heiligen Franz von Sales.

Ihr Alter sieht man der bald 73-Jährigen nicht an. Die grossen, hellen Augen schauen einen immer direkt an, sie spricht mit klarer Stimme, freundlich, zugewandt. Sr. Marthe-Françoise kennt den Menschen, in seinen vielen Facetten, angenehmen und unangenehmen. In der Villa Maria im Monbijou-Quartier in Bern kommen verschiedene Menschen miteinander in Kontakt. Hier leben sechs Ordensfrauen, vier davon betreuen die Pension, den zusätzlichen Mittagstisch und begleiten Frauen in schwierigen Lebenssituationen. Alle zusammen sind sie, so sagt Sr. Marthe-Françoise, «die Villa-Maria-Familie».

Die Ordensfrauen leben in der Villa Maria in Klausur, einem nur für sie zugänglichen Trakt, damit sie sich in die Stille zurückziehen können. «Ohne Stille, ohne Gebet und inneres Schweigen kein Ordensleben», beschreibt es Sr. Marthe-Françoise. Die Schwestern wohnen täglich der Eucharistie bei, beten und essen gemeinsam, begleitet bloss von geistlicher Lesung.

Die Pension

In der Pension stehen insgesamt 21 Zimmer zur Verfügung, um Frauen in Studium und in Ausbildung eine Unterkunft zu bieten. Das sind Studentinnen, Praktikantinnen, Lehrtöchter, aber auch Frauen, die eine berufliche Weiterbildung absolvieren. Zusätzlich nehmen die Schwestern Frauen auf, die mit Problemen zu kämpfen haben. Im Juli beispielsweise, so erzählt Sr. Marthe-Françoise,hätten sie insgesamt 92 Passantinnen beherbergt. Die meisten davon absolvierten während der Ferienzeit eine Weiterbildung. Sr. Marthe-Françoise erklärt, dass andere wiederum, besonders junge Mütter mit Kindern ein «umgehend geschütztes, unbürokratisches Zuhause auf Zeit» gesucht hätten. «Es sind Frauen, die in eine Notsituation geraten sind, die spontan anrufen, dringend Hilfe suchen und anklopfen.» Um all diesen Hilfesuchenden beistehen zu können, sind die Schwestern immer wieder auf wohlwollende Spenden angewiesen, denn sie tätigen ihre langjährige und vielfältige Arbeit in der Villa Maria «für Gotteslohn». «Für Frauen und Mütter in Notsituationen ist in der Stadt Bern viel zu wenig Platz vorhanden und das schmerzt», sagt Sr. Marthe-Françoise.

Grosses Mitleid

Sr. Marthe-Françoise hat Unglaubliches erlebt. Sie erzählt von tieftraurigen Momenten, unfassbaren Geschichten. Oft geht es um Frauen und deren Kinder. Sie erzählt davon, dass sie gerade am Anfang hier in Bern grosse Schwierigkeiten hatte: «Mein Mitleid war so gross, dass ich fast krank geworden bin. Es schmerzte mich, diese Menschen zu erleben und ihnen nicht wirklich helfen zu können.» Es gab damals als Pensionsgast eine Psychiaterin. Sr. Marthe-Françoise sprach sie auf dieses Problem an. «Sie wollte, dass ich zu ihr in die Ausbildung komme.

Ich habe dann bei ihr gelernt, wie ich mich abgrenzen kann, um auch wirklich auf die Person eingehen, sie konkret beraten und ihr helfen zu können. Da ist Mitleid fehl am Platz, konkrete Hilfe ist notwendig. Man muss zuhören, Zuversicht und Kraft geben, Mut machen, aber gleichzeitig funktionieren, die Distanz wahren.» Sr. Marthe-Françoise hat ein unerschütterliches Vertrauen in Gott und eine grosse Wertschätzung für die Menschen. Sie spricht von bedingungsloser Zuwendung, von Hilfe, Fürsorge, immer wieder vom Zuhören, Begleiten, sie spricht vom Beistand. Es klingt in der heutigen Zeit antiquiert und wunderschön.

Die katholische Ordensfrau ist weit entfernt davon, jemandem beispielsweise das Gebet aufzuzwingen oder ihren Glauben. Auch ist sie lebensnah und pragmatisch. Frauen, denen schweres, physisches wie seelisches Leid widerfahren ist, rät sie nicht zu Versöhnung, sondern zur Opferhilfe. Eine solche Frau brauche vordringlich «psychologische wie auch juristische Hilfe». Man müsse den Menschen nicht bahnbrechende Ratschläge geben. «Sich zuerst in sie hineinfühlen, wie geht es dieser Person, was braucht sie? Wir haben das Glück, in einer Ordensgemeinschaft zu leben und mitgetragen zu werden.

Jemandem, der erschöpft, verzweifelt ist, kann man kein Beten abverlangen. Wichtig ist, dass diese Person wieder zu sich findet und spürt, was sie braucht, was ihr guttun könnte. Also zuhören, verstehen, mittragen.» Als Schwesterngemeinschaft würden sie diese Personen geistlich mittragen, das Beten für sie übernehmen. Sie bete auch oft spontan vor einer notleidenden Person ein Herzensgebet.

Spiritualität

Das ist nicht alles selbstverständlich, auch sie brauche eine Quelle, eine Kraft, die ihre eigene «Schale» jeden Morgen fülle. «Durch das Gebet, durch die Meditation, die Eucharistiefeier und durch meine Gottverbundenheit und Herzensöffnung», wie sie ausführt. «Am Abend schaue ich auf den Tag zurück, was hat er mir gebracht? In der Schale liegen viele Scherben. Vielleicht war ich nicht einfühlsam genug, konnte den Erwartungen nicht entsprechen, war vielleicht zu wenig achtsam. Das sind Scherben, und ich weiss, die wird mir Gott wieder zusammenkleben, ich kann sie ihm hinhalten, damit ich die Schale am Morgen wieder füllen kann.»

Diese Haltung drückt die Spiritualität der Oblatinnen des heiligen Franz von Sales aus. Im Zentrum stehe dabei die «Visitation», der Besuch, «dass man also auf die Menschen zugeht, die Familien, die Kranken besucht, sie gleichzeitig aber auch bei uns anklopfen dürfen». «Wir Oblatinnen sind aktiv und kontemplativ, unsere Kongregation führt Schulen, Internate, Kindergärten, Pflegeheime. Alles, was den Menschen vom Kind bis ins hohe Alter betrifft. Die Oblatin ist jene, die sich schenkt, die sich in den Dienst Gottes stellt und den Mitmenschen zur Verfügung steht.» In erster Linie bedeute es, dass Gott und der Nächste im Mittelpunkt stehen würden. «Für diese bin ich da, ich bin Gottes Werkzeug, frage nach und versuche, zu finden und zu erfahren, was der Mensch braucht.»

Veränderungen

Hat sich vieles verändert in den letzten 50 Jahren? «Heute wären die Möglichkeiten sicher grösser», erzählt Sr. Marthe-Françoise, «aber ich würde jederzeit wieder ins Kloster eintreten. Es stimmt einfach für mich.» Sie war in ihrem Ordensleben insgesamt in acht verschiedenen Schwesterngemeinschaften ihres Ordens, im In- und Ausland. «Das ist eine grosse Bereicherung und ich bin sehr dankbar dafür.»

Sie könne manchmal kaum glauben, wie schnell diese Zeit vergangen sei. Früher hätten die Eltern, die Vorgesetzten für die Kinder entschieden, man habe einfach grossen Respekt gehabt und sich den elterlichen Entscheidungen angepasst. Das könne man sich heute kaum noch vorstellen. Sr. Marthe-Françoise erachtet die Veränderungen als positiv, «es ist ein grosses Plus, wenn wir unsere Gedanken, Ansichten teilen und austauschen können. Auch in der Gemeinschaft ist das wichtig. Wir können immer wieder neue Ideen einbringen. Wenn Frauen heute in die Gemeinschaft eintreten, dann haben sie oft schon einen Beruf oder ein Studium hinter sich. Das sind junge, erwachsene Menschen, die ihren Platz finden wollen und denen wir helfen müssen, ihren Platz auch zu finden.»

Sie habe aber immer eine gute Zeit gehabt, auch in der Familie. «Wir mussten sicher lernen zu verzichten und schon früh zu Hause mithelfen. Das war für mein späteres Leben sehr hilfreich. Dafür bin ich meinen Eltern sehr dankbar.» Auch im Haus, in der Villa Maria, seien die Veränderungen gross. Heute werde beispielsweise nicht mehr auf die Religion oder Konfession geschaut. «Wir sind alle Kinder eines Vaters. Ich verlange bloss gegenseitigen Respekt. Dann funktioniert es auch.» Gerade bei internationaler Belegung sei das ein sehr wichtiger Faktor.

Es geht weiter

Die Feier zum 50. Jahrestag der Profess sei sehr schön gewesen, sagt Sr. Marthe-Françoise zum Abschied. «Eine Bestätigung auch. Es 5ist nach 50 Jahren Versprechen immer noch nicht fertig. Es geht weiter, ich habe das Versprechen frohen und dankbaren Herzens erneuert. Ich möchte weiter mit Menschen in Kontakt sein und sie begleiten.» Sie wird in der Villa Maria in Bern bleiben. Sie wird auch weiterhin, bevor sie den Telefonhörer abhebt, ein kurzes Stossgebet zum Heiligen Geist schicken, solange sie gesund bleibt, die notwendige Kraft und Gesundheit hat. Das Haus funktioniert. «Es ist gut», sagt Sr. Marthe-Françoise.

 

 


HINTERGRUND

Marthe-Françoise Bammert
(*1946), stammt aus dem luzernischen Egolzwil. Nach der obligatorischen Schulzeit kam sie als Volontärin in die Villa Maria nach Bern. Anschliessend Aufenthalt in Genf, dann Vorpraktikum in der Klinik Sonnenhof in Bern. Mit etwas über 21 Jahren Eintritt in den Orden der Oblatinnen des hl. Franz von Sales in Troyes (F).
Franz von Sales
war Bischof im 16. Jh. Er war der Gründer der Visitation (Heimsuchung). Die Gründung der Oblatinnen erfolgte aber erst 1871 durch Pater Louis Brisson und die heute heilige Léonie Françoise de Sales Aviat. Der heilige Franz von Sales ist der Patron des Ordens. Das Mutterhaus und das Noviziat befinden sich in Troyes, im Nordosten Frankreichs. Der Orden hat weltweit 321 Schwestern.
Die Oblatinnen des hl. Franz von Sales gibt es seit 1904 in Bern, seit 1925 in der Villa Maria. Die Gemeinschaft zählt hier sechs Schwestern, die älteste ist 91 Jahre alt. Sr. Marthe-Françoise leitet das Haus, die neue Oberin, Sr. Christine-Antoinette Frei, ist seit anfangs August neu in ihrem Amt, gleichzeitig hat Sr. Thérèse-Béatrice Notter in Paris eine neue Verantwortung übernommen.
Von Montag bis Freitag gibt es in der Villa Maria einen für alle offenen Mittagstisch. Anmeldung am Vortag oder bis 09.00 am Vormittag. Es gibt ein Tagesmenu:031 381 33 42  info@villamaria-bern.ch www.villamaria-bern.ch
Spendenkonto: Soc. d'oeuvres pour la jeune fille, Pension Villa Maria, Kapellenstrasse 9, 3011 Bern, BEKB 30-106-9; CH69 0079 0016 2496 0110

 

 

 

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