Zwei Mal zurück in die 60er

Bücher über die turbulente Zeit, nach der die Gesellschaft eine ganz andere war

Kaum etwas prägte die 60er Jahre mehr als «sex, drugs and rock’nroll». Die Gesellschaft war danach eine ganz andere – nun versetzen uns zwei Bücher in diese turbulente Zeit zurück. Beim einen stehen eher die halluzinogenen Substanzen im Vordergrund, beim anderen die Musik.

Sabrina Durante

T.C. Boyle, Das Licht

Grössenwahnsinnige, exzentrische Persönlichkeiten scheinen den Autor zu faszinieren: von John Harvey Kellogg («Willkommen in Wellville») über Alfred Kinsey («Dr. Sex») bis zu Frank Lloyd Wright («Die Frauen») hat er sich immer wieder von ihnen inspirieren lassen. In seinem letzten Buch «Das Licht» widmet er sich Timothy Leary, einem Harvard-Professor, der sehr intensiv mit LSD experimentiert und hofft, die Grenzen des menschlichen Bewusstseins damit zu erweitern.

Das Buch fängt im Basel der 40er Jahre an – wir erleben hautnah, wie der Erfinder des LSD, der Wissenschaftler Albert Hoffmann, auf seine erste Dosis reagiert, begleiten ihn und seine junge Sekretärin auf seiner rasanten Radfahrt nach Hause – der Tag wird dabei als «Bicycle Day» in die Forschungsgeschichte eingehen.

20 Jahre später in der berühmten Harvard-Universität will der klinische Psychologe Timothy Leary das Werk Hoffmanns fortsetzen. Er leitet das Harvard Psilocybin Projekt und hat einen Kreis von Studierenden, Doktoranden und Forschende um sich geschart, um ganz wissenschaftlich die Wirkung von LSD zu erforschen. Einer seiner Jünger ist der Doktorand Fitzhugh Loney, der Leary überallhin folgt – auf den kollektiven Trips in seiner Villa, in ein Strandhaus in Mexiko und später, als Leary aus Harvard gefeuert wird, in ein grosses Anwesen in Millbrook, New York, wo die «Psychonauten» mit ihren Familien als grosse Wohngemeinschaft leben und zusammen das «Sakrament» in unterschiedlichen Dosen einnehmen. Auch Fitz ist mit seiner Frau Joan und seinem Sohn Corey eingezogen, macht sich weiterhin fleissig Notizen und dokumentiert, wie die Trips wirken, um damit irgendwann seine Doktorarbeit zu verfassen.

Bei der Beschreibung dieses Mikrokosmos in Millbrook blüht der Autor richtig auf: eine Gemeinschaft, die sich gegen die spiessigen Konventionen der damaligen Zeit auflehnt, Beziehungen, die sich nicht mehr an fixe Strukturen halten, und im Zentrum Fitz, der immer noch glaubt, dass sie im Grunde Wissenschaft betreiben.

Es ist nicht wirklich eine Überraschung, dass permanenter Drogenkonsum und freie Liebe sich negativ auf Beziehungen, Familie oder akademische Karriere auswirken. Aber die Art und Weise, wie T.C. Boyle diese Utopie von den Anfängen bis zum ernüchternden Ende zum Leben bringt, ist ein grosser Lesegenuss.


T.C. Boyle, Das Licht. Erschienen 21.08.2020 (Taschenbuch) im dtv-Verlag. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. 384 Seiten, ISBN: 978-3-423-14768-2.

David Mitchell, Utopia Avenue

London, 1967: Es herrscht Aufbruchstimmung, die Menschen befreien sich aus der geistigen und finanziellen Enge der Nachkriegszeit. Klar, eine Zimmervermieterin kann ganz ungerührt ein Schild aufhängen «Iren und Schwarze unerwünscht», und eine Bank wird sicher keine verheirateten Frauen anstellen. Doch es geht eine kreative Energie durch die Stadt, in den Clubs und Lokalen wird Musik gespielt, neue Bands entstehen und wollen alle der Zeit ihren Stempel aufdrücken. Um die Entstehung einer solchen Band geht es im neusten Roman von David Mitchell. Sie besteht nicht aus langjährigen Freunden, die gemeinsam Musik machen: der kanadische Produzent Levon Frankland pickt sich die auffälligsten Musiker der Stadt aus und bringt sie zusammen. Stimme, Klavier und Gitarre: Elf Holloway, Folk-Sängerin aus gutem Hause; an der Lead-Gitarre: Jasper de Zoet, begnadeter Musiker mit einer wahrhaftig belastenden psychischen Vorgeschichte; am Bass: Dean Moss, der noch daran ist, sich von einer traumatisierenden Kindheit zu lösen; am Schlagzeug: Griff, aus dem Norden, mit den rauen Umgangsformen von Yorkshire.

Das Buch kommt als LP-Sammlung daher: jedes Kapitel ist eine Platte, jedes Lied darin ist einem Bandmitglied gewidmet, den wir als Leser ein Stück weit begleiten. So erleben wir, wie sich die Band «Utopia Avenue» zusammenfindet, von den ersten Konzerten in der Provinz, wo die Stimmung rau ist und der Abend jederzeit in eine Massenschlägerei kippen kann, bis zu den Strategien, die sich der Produzent einfallen lassen muss, damit ihre Lieder im Radio gespielt werden. Jedes Bandmitglied bringt seine eigene Geschichte mit, seine besonderen musikalischen Talente, und sie wachsen zu einem organischen Ganzen zusammen. Auf dem Weg dahin begegnen sie – köstlich! – vielen bekannten Musiker*innen ihrer Zeit, etwa einem eleganten jungen Mann mit zwei verschiedenfarbigen Augen (David Bowie), Syd Barrett von Pink Floyd, John Lennon, Janis Joplin, die wie Elf mit der «Doppelrolle» als Musikerin und Frau zu kämpfen hat, und viele mehr. Das Buch vibriert mit musikalischer Energie, die besondere Zeit wird in jeder Zeile spürbar. Am Ende hat man das Gefühl, die Lieder der Band zu kennen, man möchte sie nachhören, aber halt, es ist nur Fiktion. Glücklicherweise hat David Mitchell diesen Effekt vorausgesehen und für die Streaming-Plattform Spotify eine Playlist mit dem Namen «Utopia Avenue» zusammengestellt: mit ihr lässt sich die Zeit bis zum Erscheinen der deutschen Ausgabe bestens überbrücken.


David Mitchell, Utopia Avenue (2020). Sceptre-Verlag, 608 Seiten. ISBN: 978-1-4447-9942-2. Die deutsche Ausgabe erscheint voraussichtlich im Frühling 2021 im Rowohlt Verlag.

 

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