Der Jardin des Plantes in Avranches. Foto: Michael Eichmann

Das grüne Reich

Wo die Impressionisten malten

Du meine Güte, welch einseitige Vorstellungen hatten sich in meinem Bewusstsein festgekrallt: die Normandie ein Nebelland, feucht, stürmisch und die provinzielle Enge ein Nährboden für die Träume von Flauberts Madame Bovary. Doch die Reise verbannte vollends die düsteren Bilder.

Von Béatrice Eichmann-Leutenegger

Die Landschaft begann Wellen zu schlagen, hügelauf und hügelab zogen sich die schnurgeraden Strassen dahin, deren Ende man weit entfernt am Horizont erblickte. Alleen säumten die Strecke, Wälder noch und noch tauchten auf, dazwischen die goldenen Rapsfelder unter einem blauen Himmel.

«Trinkt, o Augen, was die Wimper hält…», hatte Gottfried Keller in seinem Gedicht «Abendlied» geschrieben. Aber die helvetische Region, die ihn angestiftet haben mag, erscheint gegenüber den nordfranzösischen Weiten als Spielzeuglandschaft.

Thérèse von Lisieux zeigte sich höchst empfänglich für die Sprache der Natur. Sie empfand «die Trunkenheit der Wiese», und sie bezeichnete sich selbst als «Blume des Feldes» im Garten Gottes. Bis in die Träume hinein begleitete sie ihre Naturinnigkeit, in denen sie von Wäldern, Blumen, Bächen und vom Meer träumte, angeregt durch ihre normannische Heimat.
 

Mit dem Pinsel hielten sie Wiesen, Flüsse, Büsche und Blumen fest, als ob ein ewiger Frühling eingezogen wäre.


Keine sentimentale Schwärmerei lag hier vor, wie der protestantische Theologe Walter Nigg betont, sondern eine Verschwisterung, ja ein «Liebes-Verhältnis» mit der Natur.

Heute hegt der Reisende das Gefühl, mitten durch ein Gemälde der Impressionisten zu fahren, und es verwundert nicht, dass die Freiluftmalerei, deren Künstler das Atelier verliessen, gerade in Frankreich eine so nachhaltige Resonanz bewirkt hat. Ein Besuch im Musée des Beaux-Arts der Stadt Rouen zeigt die Fülle von Künstlern auf, die wie Monet dem Zauber der Pleinair-Malerei folgten – Namen, die hierzulande kaum einer mehr kennt.

Mit dem Pinsel hielten sie Wiesen, Flüsse, Büsche und Blumen fest, als ob ein ewiger Frühling eingezogen wäre. Man versteht nun auch, warum diese Landschaft ein stolzes Heimweh-Lied hervorgebracht hat, «Ma Normandie» des Komponisten und Autors Frédéric Bérat (1801-1855) aus Rouen.

Der Text des Chansons aus dem Jahr 1836 erzählt von einem Normand, der die schönsten Städte und Landschaften Europas und selbst Asiens bereist hat, aber immer wieder in seine Heimat zurückkehrt: «J’irai revoir ma Normandie…».

Avranches ist bekannt wegen der Panzerschlacht, in welcher der amerikanische General Patton am 31. Juli 1944 mit seinen Truppen die deutschen Linien durchbrach. Meist jedoch umfährt man die Kleinstadt, die weithin sichtbar auf einem Hügel thront und mit einem zauberhaften Botanischen Garten überrascht.

Er ist auf dem Areal eines ehemaligen Kapuzinerklosters angelegt worden, ein Schattenparadies mit exotischen Bäumen und Pflanzen. Plötzlich öffnet sich im dichten Blätterwerk eine Lücke, und was erblickt man? In einer Distanz von ca. zwölf Luftkilometern ragt Mont-Saint-Michel auf – eine fast unwirkliche Vision, die sich aus dem Dunst der feuchten Luft über der Meeresbucht erhebt.

Eine Überraschung erwartet uns auch im mittelalterlich geprägten Bayeux, jener Stadt, die gleich einen Tag nach der Landung von den alliierten Truppen befreit wurde und keine Zerstörungen erlitt. Ein Schild weist in den mittelalterlich geprägten Gassen zum «Jardin de Salomé».
 

la vie continue…


Man steht kurz danach vor der Pforte zu einem Garten, umschlossen von Mauern und gesäumt vom Flüsschen Aure. Eine Inschrift erklärt, dass es sich hier um den Gedenkort für die achtzehnjährige Salomé Girard aus Bayeux handelt, die am 28. April 2011 in einem Café mitten in der Stadt Marrakech tödlich verletzt wurde. Dem Terroristen-Attentat fielen siebzehn Menschen zum Opfer, unter ihnen auch ein Paar aus dem Tessin.

Am 19. Mai 2016 weihte der Bürgermeister von Bayeux in Gegenwart der Familie den Garten für Salomé ein. Das Andenken an die junge Frau sollte seinen Ausdruck nicht in einem steinernen Monument finden.

Vielmehr erschien dem Planungsteam ein grünes Reich in der Farbe der Hoffnung angemessen. Hier kann man einander begegnen, auf den Atem der Natur hören und sich an Salomés «joie de vivre» erinnern. Denn trotz allem, so versichert die Inschrift, «la vie continue…».
 

Die Serie von Béatrice Eichmann- Leutenegger im Überblick

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