Restaurant in der Normandie. Foto: Peter Lopeman, Alamy

Die kleine Geste

Herzliche Begegnungen

Es braucht oft nicht viel, damit ein Reisetag heller leuchtet: ein Wort, einen Blick vielleicht. Lassen wir gemäss dem «kleinen Weg» der Thérèse von Lisieux die grossen Taten weg, wecken wir den Zauber der kleinen Geste auf. Es ist eine Hommage an die liebenswerten Menschen, denen wir unterwegs begegnet sind.

Von Béatrice Eichmann-Leutenegger

Die Besichtigung der berühmten «Tapisserie von Bayeux» kann anstrengend sein. In 58 Episoden schildert die Stickarbeit (2. Hälfte des 11. Jhd.) die Eroberung Englands durch den Normannenherzog Wilhelm bei Hastings im Jahr 1066. Im Garten hinter dem Hotel möchte ich daher verweilen und die Beine ausstrecken.

Schon erscheint Frédéric, der hilfsbereite Mann an der Réception, und fragt, ob er eine Erfrischung bringen dürfe. Kurze Zeit danach steht ein Tablett mit Tee und Gebäck auf dem Tisch – selbstverständlich auf Rechnung des Hauses. Ich danke und lobe die Ruhe der grünen Oase. «Nächste Woche wird es hier bestimmt blühen, Madame, wir sind dieses Jahr etwas spät dran.»

Die Vögel kümmert diese Verzögerung nicht – sie pfeifen drauflos und bestreiten unentgeltlich die Tafelmusik.

Abends finden wir im gut besetzten Restaurant gerade noch letzte freie Plätze. Die Gäste sitzen eng beisammen, und so kommen wir rasch mit dem Paar neben uns ins Gespräch. Es stammt aus Yorkshire, ist mit dem Camper unterwegs und sucht die Landungsstätten der Alliierten im Juni 1944 auf. Ein Grossvater, ein Grossonkel haben hier gekämpft.

Der Mann und die Frau erzählen, wie sie sich kennengelernt haben: Sie haben bei der Luftwaffe gearbeitet, und daher verwundern ihre technischen Kenntnisse nicht. Doch jetzt steht das bestellte Essen auf dem Tisch; wir begutachten gegenseitig das Resultat unserer Menüwahl. Mir fällt sofort das Töpfchen mit Henkeln auf, ca. 5 cm hoch, in den man den Jus für den Fisch gegossen hat.

Die Frage an die Kellnerin kann ich mir nicht verkneifen: Ob man das Töpfchen kaufen könne, meine kleine Enkelin liebe solche Utensilien für ihre «Küche». Die Kellnerin verschwindet, berät sich mit einem Mann und meldet bei der Rückkehr: Der Chef wolle mir das Töpfchen für meine Enkelin schenken. Freudiger Dank der Oma, und Franca hat inzwischen bereits ihren ersten normannischen Eintopf kreiert: mit Wasser, Kieselsteinen, schwarzen Beeren und Tannnadeln. «Cuisine savoureuse»!

Läge doch Chartres um die Ecke, dann könnten wir bald wieder in jener Brasserie mit dem wieselflinken Personal essen. Denn ich vermisse den jungen Mann mit seinem wallenden Bart – nennen wir ihn Jérôme - , der mit tänzerischem Schritt aus der Küche die Speisen an den Tisch bringt, mit Schirmmütze und Schürze ausstaffiert und stets ein spitzbübisches Lächeln im Gesicht. Le comédien, so werden wir ihn später nennen.

Seine Gestik, seine Antworten sind so amüsant, dass ich ihm «Talent fürs Theater» attestiere. «Oh, das hat mir noch keiner gesagt. Aber wissen Sie, das Restaurant stellt auch eine Bühne dar, mit Auftritten und Abgängen, mit den verschiedensten Charakteren.» Er fügt hinzu, er werde in dieser Nacht nach einem solch raren Kompliment prächtig schlafen.
 

la vie en rose


Unser letztes Frühstück auf dieser Reise nehmen wir in der Burgunderstadt Beaune ein. Der jüngere Mann, der im kleinen Hotel schaltet und waltet, serviert das Gewünschte am Tisch. Zwei- oder dreimal erscheint er, um Kaffee, Brot, Käse, Früchte zu bringen.

Hinter ihm folgt ein etwa sechsjähriges Mädchen, das Butter und Marmelade auf den Tisch stellt. Es ist ganz in Rosa gekleidet, dunkelhäutig und schwarzhaarig wie der Mann, der wohl aus dem Maghreb stammt. «Ihr Töchterchen?», frage ich ihn. Er bejaht stolz, worauf ich meine, das Mädchen sei wohl seine kleine Assistentin. «Plutôt la patronne, Madame», berichtigt er schmunzelnd.

Als wir das Haus mit dem treffenden Namen «La Fleurie» nicht ohne Wehmut verlassen, um nach Bern zurückzufahren, winken Papa und Tochter. Unser Blick fällt nochmals auf das Mädchen, «la vie en rose», Verheissung und Versprechen zugleich.


Die Serie von Béatrice Eichmann- Leutenegger im Überblick

 

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