Bei einem Mediengespräch haben Spitzenvertreter der Schweizer Kirche einen Zwischenstand zur Umsetzung von Massnahmen gegen Missbrauch präsentiert. Das föderalistische System der Schweiz ist dabei ein Bremsklotz. Zudem: Nicht jedes Bistum zieht mit.
Jacqueline Straub
«Die Opfer stehen an erster Stelle, nicht der gute Ruf der katholischen Kirche», sagte Bischof Joseph Maria Bonnemain bei einem Werkstattgespräch, bei dem heute ein Zwischenbericht zur Umsetzung neuer Massnahmen gegen Missbrauch vorgestellt wurde.
Die katholische Kirche in der Schweiz hat in den vergangenen Monaten verschiedene Massnahmen beschlossen, um Missbrauch aufzudecken und zu verhindern. Diese richtig umzusetzen, sei ein anspruchsvolles Unterfangen, sagte der Churer Bischof. Er betonte, dass eine gemeinsame, nationale Strategie gefunden werden müsse. Es bringe nichts, wenn jeder im Alleingang agiere.
Zu Beginn der Veranstaltung gab Stefan Loppacher, Präventionsbeauftragter und Sprecher des Gremiums «Sexuelle Übergriffe» der SBK, einen Einblick in die heterogene Kirchenlandschaft der Schweiz, die neben verschiedenen Kulturen und Sprachen auch unterschiedliche Kirchenstrukturen aufweist.
«Ein stark föderalistisches System ist nicht bekannt für Agilität», so Loppacher. Diese strukturelle Herausforderung auf nationaler Ebene ist ein Faktor, weshalb die Umsetzung der Massnahmen nicht schneller vorangeht.
Für ihn ist es die Schlüsselfrage, wie Missbrauchsbetroffene möglichst unabhängig und professionell beraten werden. So müssen Beratung von Betroffenen und Meldestrukturen voneinander getrennt sein. Alle Betroffenen im kirchlichen Umfeld werden an kantonale Opferhilfestellen verwiesen.
Derzeit sind die SBK, die RKZ und die KOVOS in Gesprächen mit diesen Stellen, um sich am Mehraufwand finanziell zu beteiligen. Ebenso werden kirchliche Informations- und Koordinationsstellen als Support für die Opferberatung geschaffen. Und es gibt eine Weiterentwicklung der institutionsinternen Melde- und Fallbearbeitungsstrukturen. Ziel ist es, Januar 2025 eine Meldestelle zu haben.
Psychologische Assessments
Eine weitere Massnahme betrifft die psychologische Abklärung von Seelsorgenden. Dies sei «kein Blick in eine Glasskugel, wie sich die Person entwickelt», so Stefan Loppacher. Dennoch sollen die psychologischen Assessments auffällige Persönlichkeitsstrukturen sichtbar machen. «Diese Massnahme muss eingebettet sein in die kirchliche Personalpolitik, in denen der Schutz der Menschen an erster Stelle steht», sagte der Präventionsbeauftragte.
«Zur Professionalisierung des HR-Bereichs hat die Kirche für die West- und die Deutschschweiz je eine Arbeitsgruppe eingesetzt und holt sich Unterstützung beim spezialisierten Unternehmen von Rundstedt», heisst es im veröffentlichten Zwischenbericht. Auffallend ist, dass das Tessin nicht erwähnt wird. «Der Apostolische Administrator im Bistum Lugano steht zu 100 Prozent hinter den Massnahmen», sagte Bischof Joseph Bonnemain darauf angesprochen.
Verbindlichkeit im föderalistischen System
Eine dritte Massnahme umfasst die Standards für Personaldossiers und Informationsaustausch. Missbrauchstäter zu versetzen, war in der Vergangenheit möglich, da zu wenig Austausch stattgefunden hat. Derzeit werden Standards entwickelt, wie Personaldossiers geführt werden – hierfür ist eine externe Firma beauftragt worden. Dieses Jahr noch werden Schulungsunterlagen entwickelt, damit Verbindlichkeit im föderalistischen System entsteht.
Stefan Loppacher kam auch auf die kirchlichen Gerichte zu sprechen: «Dass jedes Bistum ein eigenes Gericht hat, bedeutet keine Paralleljustiz.» Dennoch wurden bei den kirchlichen Gerichten sichtbar, dass es zu wenig Knowhow gibt und oftmals eine Nähe zu den Involvierten besteht. Das kann auf nationaler Ebene zu einem «grossen Teil entschärft» werden, so Loppacher.
Bischof Joseph Bonnemain berichtete, dass es einen letzten Schritt brauche, um ein nationales kirchliches Strafgericht einzurichten. Hierzu bedarf es einer Erlaubnis aus Rom, damit die Bischofskonferenz ein Konzept erarbeiten kann. Vor drei Wochen war er zusammen mit Bischof Felix Gmür bei der zuständigen Behörde. Um diese Erlaubnis zu erhalten, müssen alle Mitglieder der Bischofskonferenz solch einem Projekt zustimmen.
1,5 Millionen Franken
Weiterhin wird das Forschungsprojekt zu sexuellem Missbrauch an der Universität Zürich im Zeitraum von 2024 bis 2026 mit 1,5 Millionen Franken gefördert. Ebenso besteht Interesse, sich an der EKS-Dunkelfeldstudie zu beteiligen.
«Die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit den düsteren Zeiten darf nicht nachlassen. Es muss vertieft werden, um Missstände zu unterbinden, weiteren Missbrauch zu verhindern und den Opfern gerecht zu werden», betonte Peter von Sury. Der Abt von Mariastein und Vertreter der KOVOS sagte, dass die Orden nicht in der Lage waren, eigene Strukturen aufzubauen, um etwa Prävention, Genugtuungsleistungen oder Opferberatung bereitzustellen. Zudem sind Orden autonom. Richtlinien können zwar ausgearbeitet, sind aber nicht verbindlich.
«Wenn die Kirche will, dass das Evangelium wieder auf guten Boten fällt, muss sie sich um eine gute Bodensanierung bemühen. Sonst laufen die Bemühungen ins Leere», so Abt Peter von Sury.
RKZ-Präsident Roland Loos sieht in der Autonomie der Bistümer, Landeskirchen und Orden eine «enorme Herausforderung». Es fehle nicht grundsätzlich an Geld, so Loos, «aber die Mittel stehen nicht auf nationaler Ebene zur Verfügung. «Es ist komplex, Geld von der Basis für nationale Projekte abzuholen.»
Offene Fragen
Vreni Peterer, Präsidentin der IG-MikU und Betroffene von sexuellem Missbrauch, unterstützte die vorgestellten Massnahmen. Dennoch äusserte sie Kritik. So berichtete sie von Betroffenen, «die nicht in die Aufarbeitung kommen, weil Fragen offen sind». Etwa, warum der mutmassliche Täter noch priesterlich tätig sein darf. Auch kritisierte sie Roland Loos, der davon sprach, dass es bei der Umsetzung von Massnahmen auf ein paar Monate mehr oder weniger nicht ankomme. Betroffenen komme es sehr wohl darauf an, ob sie länger warten müssen mit der Verarbeitung.
Sie verstehe, dass die Errichtung einer Meldestelle komplex sei, dennoch hätte sie sich gewünscht, dass diese Meldestelle schon bis September 2023 gestanden hätte. «Mir fehlt die Betreuung der Betroffenen, die jetzt da sind. Bei uns haben sich 54 Betroffene gemeldet.» Viele von ihnen sprechen zum ersten Mal über das Erlebte.
«Es ist eine gewaltige Herausforderung für uns alle», so Bonnmain an Vreni Peterer. «Wir sollten die Betroffenen ermutigen, sich bei den kantonalen Beratungsstellen zu melden.»
Konsequenteres Handeln
Stefan Loppacher erwiderte: «Der Vorwurf, dass wir zu wenig gut vorbereitet waren, müssen wir hinnehmen.» Es sei eine «bittere Wahrheit», dass es der Kirche immer noch nicht leicht falle, Betroffene in den Mittelpunkt zu stellen. Er forderte von der Kirche konsequenteres Handeln.
Weiter berichtete Vreni Peterer von einem aktuellen Fall: Eine missbrauchsbetroffene Person hat einem Bischof eine Mail geschrieben. «Es kam nicht einmal eine Empfangsbestätigung», so Vreni Peterer. Auf Rückfrage von kath.ch sagte sie, dass es sich um ein Deutschschweizer Bistum handelt.
Zum Schluss stellte Peterer noch eine Forderung: «Wir hätten gerne, dass auch spiritueller Missbrauch immer wieder in Konzepten benannt wird.» Denn das ist der Nährboden für sexuellen Missbrauch.