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«Ans Kreuz mit ihm!»

Martin Tschirren über das Delegieren von Verantwortung

Passionsspiele haben in der katholischen Kirche ja eine lange Tradition. Am bekanntesten ist wohl jenes im bayerischen Oberammergau, das alle zehn Jahre aufgeführt wird. Vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert gab es auch in der Schweiz zahlreiche Passionsspiele, beispielsweise im solothurnischen Selzach oder in Luzern.

In der Pfarrei Spiez, wo ich aufgewachsen bin, haben wir Ende der 1980er-Jahre jeweils im Karfreitagsgottesdienst die biblischen Ereignisse szenisch aufgeführt. Der Text folgte weitgehend den Schilderungen des Matthäus-Evangeliums. Eine der eindrücklichsten Szenen war für mich damals als junger Erwachsener, als Pilatus nach der Freilassung des Barabbas das Volk fragt: «Was soll ich dann mit Jesus tun, den man den Messias nennt?» Darauf das Volk im Chor: «Ans Kreuz mit ihm!» Und diese Forderung wird auf Pilatus’ Nachfrage gar noch lauter wiederholt.

Wenn ich heute diesen Text lese, frage ich mich: Wie kommen diese Leute dazu, so gerade hinaus den Tod eines Menschen zu fordern? Trotz der Aufwiegelung, von der der Evangelist berichtet – gab es denn da niemanden, der diesem kollektiven Kreuzigungsruf entgegentrat?

Aber wie kam es überhaupt dazu, dass Volkes Stimme über das Los eines Menschen entscheiden konnte? Aus heutiger Sicht würde ich sagen, weil Pilatus seiner Verantwortung als römischer Statthalter und Richter nicht nachkam. Denn als solcher war es an ihm, über eine Kreuzigung zu entscheiden. Aber er schob nicht nur den Entscheid über Leben und Tod der Menschenmasse zu, sondern «wusch seine Hände» anschliessend noch «in Unschuld». Verantwortung lässt sich jedoch nicht delegieren. Vielleicht ist auch dies eine Aussage der Karfreitagsgeschehnisse.

 

 

 

Martin Tschirren
… hat als Diplomat gearbeitet und vertritt heute die Interessen der Schweizer Städte in der nationalen Politik. Er engagiert sich u.a. im Kleinen Kirchenrat.
Illustration: schlorian

 

 

 

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