«Die Kirche ist frei. Der Heilige Geist treibt sie an.» Im Bild: Palazzo Cini, Venedig. Treppe in den Himmel, Tomaso Buzzi. Foto: kr

Auf dem Weg zu einer Kirchengestalt für unsere Zeit

Kirchenhistorischer Rückblick auf die Synode 72

Am Vorabend des Zweiten Vatikanischen Konzil sagte der junge Startheologe Joseph Ratzinger: «Das Christentum lebt gerade auch bei uns selber nicht in unserer eigenen, sondern in einer uns weitgehend fremden Gestalt, der Gestalt des Mittelalters.»

Von Mariano Delgado*

Um diese Gestalt des Mittelalters, die z. B. in Sachen «Klerikalismus» durch das Konzil von Trient nicht wesentlich korrigiert wurde, zu überwinden, fand das Konzil statt. Das Zauberwort war dann «Aggiornamento». Was ist aus dem Traum Johannes’ XXIII. von einem Sprung nach vorn und einem Neuen Pfingsten geworden, in dem wir als «Kirche der Armen» anfangen werden, «das Evangelium besser zu verstehen»?

Ich sehe in der «Hermeneutik der Evangelisierung» den Schlüssel zum Verstehen des Konzils. Wie also verstehen wir die Evangelisierung, die Weitergabe der Frohen Botschaft? Denn die Evangelisierung ist die wesentliche Aufgabe der Kirche. Zum Wohle der Evangelisierung sollte die Kirche den Mut zu grösseren Diskontinuitäten haben, zu Unterbrechungen von Traditionen also.

Dazu genügt ein Blick auf das «erste» Konzil der Kirchengeschichte (Apg 15,1-35). Die darin getroffene Entscheidung zur Öffnung der Kirche für die Nicht-Juden unter Verzicht auf «wichtige» Teile des Judentums wie die Beschneidung und mit der konsequenten Entwicklung eines neuen Volk-Gottes-Begriffs, der aus den Heiden «Abrahams Nachkommen, Erben kraft der Verheissung» (Gal 3,29) macht: ist das nicht Ausdruck einer «Hermeneutik der Evangelisierung», die sich angesichts der Zeichen der Zeit auch in sehr wichtigen Fragen die Freiheit nimmt, jene Entscheidungen zu treffen, die der Dynamik der Evangelisierung förderlich sind, auch wenn dies «Abschaffungen und Unterbrechungen der heilsgeschichtlichen Kontinuität» (Karl Rahner) zugunsten der nötigen Innovationen bedeuten sollte?

Mit seinem Appell an die «Freude» der Evangelisierung in Evangelii gaudium (2013) erinnert Papst Franziskus implizit an das Gaudet mater Ecclesia in der Eröffnungsansprache Johannes’ XXIII. vom 11. Oktober 1962. Daher finden wir bei beiden eine ähnliche Sprache und eine vergleichbare Sicht der Aufgabe der Kirche in der Welt von heute. In seiner Homilie während der hl. Messe in Santa Marta vom 6. Juli 2013 erinnerte Franziskus an Jesus Wort von den neuen Schläuchen, die man für den neuen Wein benötige (Mt 9,17), bevor er auf das Jerusalemer Konzil anspielte: «Im christlichen Leben, wie auch im Leben der Kirche, gibt es einfallende Strukturen. Es ist erforderlich, dass sie erneuert werden. […] Das ist eine Arbeit, die die Kirche immer gemacht hat, vom ersten Augenblick an. Erinnern wir uns an die erste theologische Auseinandersetzung: muss man, um Christ zu werden, alle religiösen jüdischen Gebote befolgen, oder nicht? Nein, sie haben nein gesagt. […] Die Kirche ist frei. Der Heilige Geist treibt sie an.»

Hinter diesen Worten versteckt sich das wesentliche Problem der Kirchenreform und der Hermeneutik des Konzils: verstehen wir die Kirchengeschichte als die blosse materielle Entfaltung der Substanz oder des Schatzes der Anfänge, so dass Neuentwicklungen nur in Kontinuität mit der Tradition bei kleinen Diskontinuitäten im Nebensächlichen möglich sind – oder ist die Kirche angesichts der Zeichen der Zeit auch frei, neue Traditionen zu inaugurieren, weil wir in der Kraft des Geistes und nach der angemessenen Unterscheidung oder Abwägung aus den in Christus verborgenen Schätzen zum Wohle der Evangelisierung Neues zutage fördern können?

Die Strukturreform der Kirche ist seit dem Konzil auf halbem Weg geblieben, sonst würde nicht der oberste Kleriker den «Klerikalismus» geisseln und zu mehr «Synodalität» ermutigen. Angesichts der Struktur der katholischen Kirche wird vieles von der eigenen «Kühnheit» des Papstes abhängen, von seinem Mut und seiner Entschlossenheit zum Wandel, von seiner Fähigkeit, den «Tutiorismus des Wagnisses» zu übernehmen. Denn wie G. K. Chesterton sagte, lebendige Tradition ist die Rettung des «Feuers» (der Evangelisierung), nicht die Bewahrung der «Asche» einer vergangenen Kirchengestalt.

 

* Mariano Delgado ist Professor für Kirchengeschichte und Direktor des Instituts für das Studium der Religionen und den interreligiösen Dialog an der Universität Freiburg. Er organisiert auch Studienreisen nach Spanien.

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