Manche glauben an Gott oder eine höhere Macht, andere glauben gar nicht. Was bewegt diese Menschen? Eine Journalistin findet auf ihrer Suche bei Gläubigen aller Couleurs erstaunliche Antworten.
von Sylvia Stam
Sie ist auf der Suche. Die Journalistin Michelle de Oliveira (*1985) gibt im Vorwort ihres Buches unumwunden zu, was sie im Titel sagt: «Ich glaube, mir fehlt der Glaube.» Ihre spirituelle Biografie dürfte typisch sein für viele sogenannt kirchenferne, aber spirituell affine Menschen unserer Zeit: Katholisch sozialisiert, Erstkommunion und Firmung, weil das halt dazugehört, im Jugendalter fasziniert von Buddhismus und Yoga. Es folgen Kirchenaustritt, eine selbst zusammengestellte Patchwork-Religion mit Mondphasen, Räuchern und Edelsteinen. Sie selbst nennt es «Fast Food» und verspürt den Wunsch nach «etwas, das mich wirklich satt macht». Schliesslich will sie wissen, ob sie glaubt, und wenn ja, was. Darum sucht sie das Gespräch mit Gläubigen aller Couleurs, aber auch mit Wissenschaftlerinnen und einem Freidenker.
Hilfreiche Strukturen
Bei der Lektüre der 14 Zeugnisse, die mal als Interview, mal in Ich-Form formuliert sind, werden erstaunliche Parallelen zwischen den einzelnen Ausprägungen von Spiritualität sichtbar. Da ist etwa Mirjam Haymann (*1985), Jüdin und Yogalehrerin. Sie spricht über die Struktur, die im Judentum wie im Yoga wesentlich sei – in Form von Gesetzen bzw. Körper-Positionen. «Man ordnet sich der Struktur unter», sagt sie, «das Repetitive, das man macht, egal ob man jetzt Bock hat oder nicht.» Diesen «Akt von Demut» setzt sie einem übersteigerten Individualismus entgegen, wie er gerade in Yogakreisen weit verbreitet sei. Das helfe letztlich, «dass man rauskommt aus den eigenen Geschichten».
Ein Thema, das ebenfalls in verschiedenen Texten vorkommet, ist der Umgang mit Leid. Delik Uçak-Ekinci (*1975), Islamwissenschaftlerin und muslimische Spitalseelsorgerin, sagt dazu: «Mir hat der Glaube stets geholfen, schwierige Zeiten zu überstehen», so Uçak-Ekinci. Sie leide deswegen nicht weniger, «aber ich verliere in diesem Schmerz die Zuversicht nicht.» Auch der Katholik Martin Iten (*1986), bekannt aus der Weltjugendtagbewegung, sagt: «Man kann das Leiden weder schönreden noch relativieren, aber man kann es Gott anvertrauen.»
Verbindlichkeit und Disziplin
Dass Religion und Spiritualität in Krisenzeiten eine Ressource sein können, bestätigt Religionswissenschaftlerin Dorothea Lüddeckens (*1976): «Gerade wenn man eine religiöse Praxis über viele Jahre kultiviert hat, kann man in Krisenzeiten auf etwas zurückgreifen.» Sie spricht damit die Verbindlichkeit und Disziplin einer religiösen Praxis an, die im Buch ein wiederkehrendes Thema ist. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, wenn Kathrin Awi (*1983), Designerin und Channeling-Medium, die lieber von «Universum» als von «Gott» spricht, sagt: «Um eine wirkliche spirituelle Verbindung zu leben, braucht es Disziplin. Darum macht es für mich Sinn, dass man früher jeden Sonntag in die Kirche ging.»
Wer all diese faszinierenden Zeugnisse gelesen hat, wartet gespannt auf das Nachwort der Autorin. So viel sei verraten: Ihr wurde bewusst, wie eng und einseitig ihr Bild von Religion war. Sie kann das Thema Glauben weder ad acta legen, noch weiss sie jetzt, wie Glaube funktioniert. Dennoch ist sie auf ihrer Suche «ein riesiges Stück weitergekommen.»
Hinweis:
Michelle de Oliveira: Ich glaube, mir fehlt der Glaube. 14 Gespräch über Religion, Glaube und Spiritualität. TVZ 2024