Ein junger Pfadfinder bläst zum Appell (ASL, um 1940). Foto: Schweizerisches Nationalmuseum, LM-119390.9.

Bieler Pfarrer leistete mit seiner Pfadi Widerstand

1940 unterstützten Pfarrer Otto Sprecher und seine Pfadfinder die Bieler Zivilbevölkerung.

Vor 80 Jahren eroberte Hitler Frankreich im Sturm, auch die Schweiz rechnete jede Stunde mit einem Einmarsch. In Biel scharte der katholische Pfarrer Otto Sprecher seine Pfadfinder um sich, um zivilen Widerstand zu leisten.

Autorin: Hannah Einhaus

Pfingsten 1940. Die Stimmung im Lande ist bis aufs Äusserste angespannt. Die Wehrmacht könnte jeden Moment in die Schweiz einmarschieren, wie im April in Dänemark und Norwegen geschehen. Nur 18 Tage dauert in diesem Mai die Eroberung von Frankreich, Belgien, Luxemburg und den Niederlanden. Und die Schweiz mittendrin. Angst herrscht. Die Gesellschaft ist gespalten: Einige Gruppierungen bereiten sich auf eine nationalsozialistisch geführte Schweiz vor, eine weitgehend patriotisch motivierte Mehrheit der Männer rückt in den Aktivdienst ein oder übt sich in zivilem Ungehorsam.

Zu Letzteren gehört Otto Sprecher, katholischer Vikar in Biel. In den letzten ein, zwei Jahren hat er hier eine Schar von Pfadfindern aufgebaut, auf die er zählen kann. So jedenfalls ist die Stimmung, wie sie Sprecher in seinem Buch «Nacht auf Fallschirmwacht. Was Bielerbuben in den Pfingsttagen 1940 erlebten» beschreibt. Er publiziert das Buch 1942 unter dem Pseudonym F. M. Gotthard. «F.M.» steht für Feldmeister, schliesslich pflegt die Pfadi mit ihren Uniformen und «Codes» militärische Eigenheiten. Mit «Gotthard» signalisiert Sprecher seinen felsenfesten Widerstandswillen. Die Namen sind im Buch geändert, die Handlungen wahren Begebenheiten nachgezeichnet.

An Pfingsten vom 14./15. Mai 1940 ist die Hilfe von Sprechers katholischer Pfadi an allen Ecken und Enden gefragt. All die Männer, die in den Aktivdienst eingerückt sind, haben Lücken hinterlassen. Sprechers Truppe hilft der Zivilbevölkerung in Biel: Sie sind im Einsatz beim Pöstler und auf Bauernhöfen, nehmen eine evakuierte Familie aus Basel am Bieler Bahnhof in Empfang, leisten einer Trauung Gesellschaft, die sonst nur aus Brautpaar und Trauzeugen bestanden hätte, bauen Tragbahren und üben sich mit dem Notfallkoffer. Andere bauen in der Nähe der Taubenschlucht Evakuationszelte auf und führen in Absprache mit den Polizeibehörden nächtliche Strassenkontrollen durch. Wieder andere spähen von hohen Tannen aus Richtung Himmel, denn befürchtet wird ein Angriff deutscher Fallschirmtruppen. Letzteres trifft nicht ein, doch bis am Morgen ereignen sich einige Unfälle unter den Pfadern, die Otto Sprecher alias F. M. Gotthard mit einem gewissen Augenzwinkern zu erzählen scheint. Schliesslich haben seine Jugendlichen jenen Kampfgeist gezeigt, wie er es sich von allen heimatliebenden Schweizern erhoffen würde.

«Er hatte das Herz auf dem richtigen Fleck», sagt sein Neffe Paul Ignaz Vogel, der heute bei Bern lebt. Der damals noch junge Vikar stammte aus einer Familie in Aesch/BL, in der die katholische Kirche eine zentrale Rolle einnahm. Zahlreiche Familienmitglieder waren Geistliche geworden, einige Schwestern und Cousinen arbeiteten als Haushälterinnen in Pfarrhäusern oder wurden Nonnen. Die Geschichte von Otto Sprecher und seiner Courage ist in Vergessenheit geraten. Nur über die Nationalbibliothek ist noch ein Exemplar zu finden, seit Jahren nicht mehr ausgeliehen.

Wer wirklich hinter dem Pseudonym «F. M. Gotthard» steckt, wissen heute nur noch Vogel und weitere Neffen und Nichten – inzwischen selbst in ihren Siebzigern und Achtzigern. Sie charakterisieren ihren Onkel auf Anfrage als ernste, nachdenkliche und sehr strenge Persönlichkeit. Gleichzeitig heben sie alle seine Menschlichkeit hervor, seine Bereitschaft, den Armen und Ärmsten während und nach dem Krieg beizustehen. Von Biel aus war Sprecher 1942 Seelsorger für katholische Flüchtlinge im Auffanglager in Büren an der Aare (Beitrag «Seelsorger für Internierte», siehe unten). Nach seiner Versetzung nach Selzach/SO betreute er weiterhin Flüchtlinge – und wurde dafür von den Behörden gerügt.

Ganz offenkundig war Otto Sprecher ein stiller, aber gut vernetzter Mann – bis hin zu Bundesrat Minger und General Guisan. Diese beiden waren bei ihm 1952 zu Besuch. Wie es zu diesem Treffen kam, ist bisher nicht bekannt. Auch ist anzunehmen, dass er zu einem Netzwerk von Fluchthelfern gehörte. Exakte Informationen dazu sind jedoch in seinem Nachlass im Staatsarchiv in Liestal nicht zu finden. Entsprechende Dokumente steckten wohl in jenem verschlossenen Kuvert, das Sprechers Verwandte nach seinem Tod gemäss seinem letzten Willen zu vernichten hatten. Dazu Vogel: «Er nahm seine Geheimnisse mit ins Grab.»

 

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«Seelsorger für Internierte»

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