Vor einem Jahr verübte die islamistische Terrororganisation Hamas ein Massaker an Israelis. Als Antwort führt Israel einen brutalen Krieg in Gaza. «Politisch sehe ich keine Perspektive für Frieden», sagt Jasmin El-Sonbati. Christian Rutishauser fordert «eine echte Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus in der Schweiz.»
Annalena Müller
«pfarrblatt»: Herr Rutishauser, wann haben Sie gemerkt, dass der 7. Oktober 2023 ein Wendepunkt ist?
Christian Rutishauser: Es hat eine Weile gedauert. Ich bin an dem Tag zu einem Kongress über die Rolle des Papstes während der Shoah gereist. Erst als ich abends die Videos in den sozialen Medien sah, begann ich die Tragweite zu begreifen.
Jasmin El-Sonbati: Ich war am 7. Oktober in Kairo. Zunächst dachte ich, es sei das Übliche. In der Region kommt immer eine Rakete von irgendwoher. Erst als ich europäische Nachrichten gehört habe, wurde mir bewusst, was in der Negev-Wüste passiert ist.
Erst in den europäischen Nachrichten?
El-Sonbati: Ja. In arabischen Medien dominiert ein antiisraelisches Klima. Auch das gesellschaftliche Narrativ sieht in Israel den ewigen Feind, der die palästinensische Bevölkerung benachteiligt. Das stimmt natürlich zum Teil, man muss nur an die Übergriffe extremer jüdischer Siedler:innen im Westjordanland denken.
Der Nahostkonflikt ist einer der komplexesten der jüngeren Geschichte. Warum ist Frieden im Nahen Osten unmöglich?
Rutishauser: Zunächst müssen wir fragen, worin besteht diese Komplexität? Geht es um einen israelisch-palästinensischen Konflikt oder geht um einen religiösen Konflikt?
Und?
Rutishauser: Es geht um einen politischen Konflikt, der von Extremist:innen auf beiden Seiten religiös und ideologisch instrumentalisiert wird. Und keine der extremistischen Parteien will eine politische Lösung.
El-Sonbati: Die arabischen Länder haben kein Interesse an einer Lösung. Mit der Palästinenserfrage können die autokratischen Regierungen der Region Opfernarrative bemühen. Gleichzeitig nehmen sie keine Flüchtlinge auf, aus Angst, dass es im eigenen Land Unruhen gäbe, wenn knappe Ressourcen auf mehr Menschen verteilt werden müssten.
Im Frühjahr gingen Satellitenbilder um die Welt, auf denen eine Betonmauer zu sehen war, die Ägypten an der Grenze zu Gaza hochgezogen hat. Deren Zweck: Kriegsflüchtlinge aus Palästina aufzuhalten, sollte es zu einem Grenzdurchbruch kommen …
El-Sonbati: Palästinenser:innen, die unter dem Krieg in Gaza leiden, sind in den arabischen «Bruderländern» nicht willkommen. Ein Cousin vor mir, der politisch nicht informiert ist, sagt immer «ja, die Palästinenser, die machen Probleme». In Ägypten herrscht Konsens darüber, dass mit den aus Palästina stammenden Menschen die Unruheherde in die Fluchtländer überschwappen würden. Das will man nicht. Gleichzeitig existieren die Narrative des von Israel unterdrückten Brudervolks, dem man helfen muss. Man schickt zwar Nahrungsmittel, aber aus Angst vor der eigenen politischen Zerbrechlichkeit öffnet man die Türen für Kriegsflüchtlinge nicht.
Auch der öffentliche Diskurs in der Schweiz ist emotional aufgeladen. Studierende solidarisieren sich mit der Zivilbevölkerung Gazas und skandieren antisemitische Parolen. Auf der anderen Seite steht Netanjahu, dessen politisches Überleben davon abhängt, dass der Krieg weitergeht. Gibt es eine richtige Seite?
Rutishauser: Ein Freund von mir, dessen beide Söhne derzeit in Gaza kämpfen, sagte zu mir: «80 Prozent der Palästinenser unterstützen die Hamas.» Damit meinte er, dass die Bevölkerung für ihre Regierung verantwortlich ist. Ich sagte ihm: Selbst wenn die Bevölkerung im Augenblick die Hamas unterstützt, muss man zwischen der Terrororganisation und Zivilpersonen unterscheiden. Das Vorgehen der israelischen Armee kostet zu viele zivile Leben, selbst wenn die Hamas die Hauptschuld trägt.
El-Sonbati: Während der Studierendenproteste hatte ich grosse Fragezeichen. Ich bin Gymnasiallehrerin in Basel und thematisiere den Nahostkonflikt von jeher in irgendeiner Art. Daher weiss ich, die Schüler:innen haben wenig Hintergrundwissen. Und dann sehe ich sie auf einmal protestieren. Als arabischstämmige Frau könnte ich durchaus Sympathien haben. Aber ich stelle mir schon die Frage: Woher kommt plötzlich diese Überidentifikation? Ich glaube, die Macht der Bilder und deren Instrumentalisierung für die Sache der Hamas spielt eine grosse Rolle. Viele Studierende treten blindlings für etwas ein, von dem sie gar nicht genau wissen, was es eigentlich ist.
Rutishauser: Ich bin auch skeptisch. An der Münchner Hochschule für Philosophie habe ich ein Seminar zum Thema «Antisemitismus in der Philosophie» gegeben. Draussen gab es zwei Protestcamps. Ich habe die Studierenden hingeschickt, um Gespräche zu führen. Es stellte sich heraus, dass ein grosser Teil der Protestierenden keine Studierenden war.
Wie nehmen Sie die innergesellschaftliche Lage ein Jahr später wahr?
El-Sonbati: Die Positionen haben sich weiter verhärtet. Ich merke, dass ich mit anderen arabischstämmigen Personen kaum noch über das Thema sprechen kann. Ich gelte oftmals als Israel-Versteherin. Und das ist natürlich schwierig, wenn man unterschiedliche Meinungen nicht einmal mehr diskutieren kann.
Rutishauser: Ich mache in Israel ähnliche Erfahrungen. Wenn ich kritisch bin, dann wird das nicht goutiert. Ein zweiter Punkt, der mir grosse Sorgen macht, ist, dass in Europa antisemitische Stereotype wieder an die Oberfläche kommen.
El-Sonbati: Das stimmt. Da hat sich etwas verändert. Als ich in den 70er-Jahren in die Schweiz gekommen bin, wurde für Israel Geld gesammelt und wurden Jaffa-Orangen verkauft. Die Solidarität lag eindeutig bei Israel. Damals war ich eine Outsiderin, wenn ich auch die arabische Perspektive einbringen wollte.
Rutishauser: Jüdinnen und Juden geniessen nur Sympathien, solange sie Opfer sind. Man will sich nicht für ein Israel einsetzen, das nicht dem Opfer-Klischee entspricht, sondern ein Staat ist, der sich mit Gewalt verteidigt.
Ein starker jüdische Staat, entkoppelt von der Shoah, geniesst keine Sympathien?
Rutishauser: Genau und es geht darüber hinaus. Ich habe Angst, dass die «Judenfrage» des 19. Jahrhunderts zurück ist, also die Frage, wohin mit jüdischen Menschen, wie sie integrieren. Dazu kam die Vorstellung: Wenn man «das Problem mit den Juden» löst, würden automatisch andere gesellschaftliche Probleme gelöst. Die europäischen Nationalstaaten setzten im 19. Jahrhundert auf Assimilation, doch der Antisemitismus explodierte. Während die Nazis sich an eine grausame «Endlösung» machten, wurde der politische Zionismus eines Theodor Herzls der einzig gangbare Weg …
… aber die Gründung eines jüdischen Staates war keine «Lösung»?
Rutishauser: In der Logik der europäischen «Judenfrage» schon. Doch angesichts des neu-alten Antisemitismus, scheint die Frage auf eine globale Ebene verschoben. Sie ist Teil des postkolonialen Diskurses. Jüdische Menschen werden als europäische – und damit schuldige – Täter:innen der kolonialen Unterdrückung gesehen. Dieser Logik folgend, solidarisieren sich die arabische und die afrikanische Bevölkerung mit Palästina. Im 20. Jahrhundert glaubten viele, man könne den Frieden in Europa herstellen, indem man die «Judenfrage» löse. Nun befürchte ich, dass sich die globale Idee durchsetzt, dass mit der Lösung der «Israelfrage» automatisch ganz viele Weltprobleme gelöst wären. Das wäre eine sehr gefährliche Entwicklung.
Während wir hier sitzen, eskaliert die Lage in Nahost weiter. Ist Frieden in der Region möglich?
El-Sonbati: Politisch sehe ich keine Perspektive – aus all den genannten Gründen. Wenn überhaupt, dann über wirtschaftliche Verknüpfungen, wie sie die «Abraham Accords» von 2020 anvisiert hat …
… eine enge wirtschaftliche Vernetzung zwischen Israel und seinen Nachbarn, vergleichbar mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft nach dem Zweiten Weltkrieg …
Rutishauser: Das sehe ich ähnlich.
Was wünschen Sie sich für den Diskurs in der Schweiz?
Rutishauser: Dass wir Schweizer:innen aus unserer Überheblichkeit herauskommen zu meinen, wir wüssten, wie man den Konflikt lösen kann. Ich wünsche mir eine echte Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus in der Schweiz. Das ist ein blinder Fleck in unserer Gesellschaft. Wir reden uns noch immer ein, dass das ein Thema der Deutschen ist. Diese Arroganz abzulegen und sich mit der eigenen antisemitischen Kultur auseinanderzusetzen, das wünsche ich mir.
El-Sonbati: Ich wünsche mir, dass wir zu mehr Empathie finden. Auch als arabischstämmiger Mensch kann ich anerkennen: Am 7. Oktober 2023 ist etwas Furchtbares passiert. Die Menschen, die in der Negev-Wüste ermordet wurden, die Frauen, die vergewaltigt und verstümmelt wurden. Das anzuerkennen, nimmt nichts von dem Leid auf der anderen Seite weg. Egal, auf welcher Seite man steht: Wir können anerkennen, dass es irrsinnig grosses Leid ist.
Jasmin El-Sonbati (64) wuchs in Kairo und der Schweiz auf. Sie ist die Verfasserin von zwei Sachbüchern. «Moscheen ohne Minarett. Eine Muslimin in der Schweiz» und «Gehört der Islam zur Schweiz?» sind beide im Berner Zytglogge Verlag erschienen.
Der Jesuit Christian Rutishauser (58) ist in St. Gallen aufgewachsen. Zwischen 2014 und 2024 war er ständiger Berater des Heiligen Stuhls für die religiösen Beziehungen mit dem Judentum. Im Sommer 2024 trat er die Professur für Judaistik und Theologie an der Universität Luzern an.