Christian Walti, zuletzt reformierter Pfarrer in der Berner Kirchgemeinde Frieden, wird Pfarrer am Zürcher Grossmünster. Im Interview spricht er über Teamarbeit, das Experiment «Fernfamilie» und die Zukunft des Pfarrberufs.
Mirjam Messerli, reformiert.info
Christian Walti, Sie sind als neuer Pfarrer im Grossmünster Zürich vorgeschlagen. Eine renommiertere Pfarrstelle gibt es in der Schweiz kaum.
Christian Walti: Das Grossmünster ist sicher ein symbolträchtiger Ort, weil dort die Schweizer Reformation begonnen hat. Für mich persönlich ist die Kirche aber auch stark verbunden mit meiner Kindheit, Jugend und dem Studium. Als Jugendlicher habe ich sogar mal im Grossmünster übernachtet und ich habe direkt nebenan im Theologischen Seminar studiert.
Macht man als Pfarrer eigentlich eine Karriereplanung? So im Stil von: Ich fange in einer kleinen Kirchgemeinde an, und irgendwann predige ich dann im Grossmünster?
Christian Walti: Mein Leben war immer schneller und wirrer als meine Pläne. Gezielt auf dieses Pfarramt hingearbeitet habe ich also nicht. Was sicher gut zu mir passt an der Stelle im Grossmünster ist, dass das Pfarramt dort eine öffentliche Aufmerksamkeit hat. Das habe ich in meinen bisherigen Stellen auch schon bewusst zu schaffen versucht.
Sind Sie deshalb so aktiv auf den sozialen Medien?
Christian Walti: Ich versuche über die sozialen Medien, aber auch über Aktionen wichtige Themen und Projekte in der Öffentlichkeit anzusprechen. Die Kirche gewinnt ihre Relevanz für viele Menschen erst dadurch, dass sie auch in der Öffentlichkeit sichtbar ist.
Als Pfarrer derart im Fokus zu stehen, kann aber sicher auch schwierig sein.
Christian Walti: Es hat Vor- und Nachteile. Wenn man an einem weniger exponierten Ort arbeitet, kann man eher «von der Seitenlinie» her agieren, hat mehr Narrenfreiheit. Aber ich scheue wie gesagt Öffentlichkeit und Aufmerksamkeit nicht.
Sie sind zur Wahl vorgeschlagen. Kann da noch etwas schiefgehen?
Christian Walti: (lacht) Ja, aber ich nehme es nicht an. Die Mitglieder der Pfarrwahlkommission schlagen mich zur Wahl vor. Das ist ein grosses und professionelles Gremium, das demokratisch gewählt wurde. Die Wahl muss aber noch vom Kirchenparlament und der Ortsgemeinde bestätigt werden – so kann sich die breite Bevölkerung an der Auswahl beteiligen. Dann erst ist eine Pfarrwahl sozusagen doppelt legitimiert.
Nachdem bekannt geworden war, dass Sie als Grossmünster-Pfarrer vorgeschlagen sind, warf die News-Plattform ref.ch die Frage auf, ob denn nicht auch eine Frau für das Amt in Frage gekommen wäre.
Christian Walti: Natürlich! Auch ich hatte das Gefühl, dass man am Grossmünster auf eine Frau wartet. Persönlich fielen mir sofort mindestens zehn Frauen ein, die genauso gut oder besser zum Grossmünster gepasst hätten als ich. Aber sie haben sich entweder nicht beworben oder waren bereits bei den Zürcher Altstadtkirchen im Pfarramt. Ich hatte bei der Bewerbung also kein schlechtes Gewissen und freue mich natürlich, dass die Wahl auf mich gefallen ist. Zugleich bin ich sehr froh, dass im Pfarrteam der Altstadtkirchen mit mir gleich viele Frauen wie Männer arbeiten werden.
Sie sind auch im Grossmünster ein Pfarrteam.
Christian Walti: Genau. Das entspricht auch meinem Verständnis des Amtes. Ich bin nicht DER Pfarrer, der im Alleingang alles weiss, macht und repräsentiert. Das würde auch nicht der reformierten Kirche entsprechen. Ich sehe mich immer schon als Teil eines Teams. Das wird im Grossmünster nicht anders sein als in der Friedenskirche Bern. Teams sollten möglichst divers sein. Als weisser Mann mit klassischer Familie fühle ich mich unvollständig, wenn in einem Team nicht auch Menschen anderen Geschlechts oder mit anderen Biografien sind.
Sie wohnen im Moment mit Ihrer Familie in Bern. Dann ziehen Sie vermutlich bald nach Zürich um?
Christian Walti: Nicht ganz. Wir wagen das Experiment «Fernfamilie». Ich suche mir ein Zimmer in Zürich, meine Frau und die beiden Kinder bleiben vorderhand in Bern. Das hat zwei Gründe: Meine Frau ist auch Theologin und arbeitet im Spiegel bei Bern und die Kinder sind eingeschult. Wir haben darum entschieden, dass die Familie vorläufig in Bern daheim ist. Ein Familienumzug ist nicht ausgeschlossen, soll aber keine Hauruckübung sein.
Wie wird Ihr Leben rein praktisch im Alltag ablaufen?
Christian Walti: Ich werde vermutlich einen fixen und zwei wechselnde Tage nach Bern kommen, für eine Übergangszeit im Begegnungsorts Dock8 arbeiten und die Konfirmationsklasse noch für ein paar Monate behalten. Mir ist aber wichtig, dass ich ab Februar mehrheitlich in Zürich präsent bin und dort auch übernachte, wenn ich arbeite.
Ist die Pfarrfamilie im Pfarrhaus ein Auslaufmodell?
Christian Walti: Ich habe schon in zwei Pfarrhäusern gelebt und kenne Kolleginnen und Kollegen, die mit dem Pfarrhaus ihre Arbeit sehr bereichern. Aber wir leben im Jahr 2024, und ich bin nicht der Chef meiner Familie. Es kann nicht sein, dass die Pfarrfamilie sozusagen das Backoffice-Team im Pfarramt ist und kein eigenes Leben hat.
Wie verändert sich der Beruf des Pfarrers, der Pfarrerin?
Christian Walti: Ich glaube, das Pfarramt in der hergebrachten Form wird aussterben. Ich finde den Beruf toll, aber ich bin kein Nostalgiker. Die Lebenshaltung, das Engagement und die Inhalte des Pfarramts werden neue Formen finden. Wie lustig: Mit dieser Einstellung gehe ich an einen Ort, wo man praktisch «der Zwingli vom Dienst» ist (lacht)!
Was ändert sich denn konkret am Pfarrberuf?
Christian Walti: Es wird stärker gefragt sein, dass sich Pfarrpersonen aufs Netzwerken, auf gemeinschaftsbildende Angebote und Projekte konzentrieren. Sie werden oft eine Art Coaching-Rolle einnehmen. Der allwissende Pfarrer, der Dorfweise, der den Leuten sagt, wie sie leben sollen oder der Pfarrer in der Rolle des Richters, der buchstäblich sagt, wo Gott hockt, das alles ist von vorgestern.
Mit welcher Haltung, mit welcher Hoffnung treten Sie die neue Stelle an?
Christian Walti: Ich bin begeistert von den Geschichten der Bibel, von Musik und Kultur und von engagierten sozialen Projekten, die ich in der Kirche und darüber hinaus erlebt habe. Diese Begeisterung möchte ich mitbringen. Ich finde es schade, wenn wir bei der Kirche auf unser eigenes Ableben warten, die ganze Zeit davon reden und doch nichts tun – und bei jedem Kirchenaustritt den «sterbenden Schwan» spielen. Ich weiss aus Erfahrung, dass wir immer noch vielen Menschen wichtige Impulse geben können. Und ich glaube, dass wir mit den Gebäuden, den Strukturen und dem Geld, das die Kirche noch hat, Gutes im Sinne von Jesus tun können.
Christian Walti (41) war zuletzt Pfarrer in der reformierten Kirchgemeinde Frieden in Bern sowie im Haus der Religionen tätig.