Das Berner Münster ist eine Dauerbaustelle. Auch der Klimawandel setzt dem Sandstein zu. Wir besuchten drei Personen, die seit Jahren hier arbeiten.
Text und Fotos: Vera Rüttimann
Der Weg zu Peter Völkle ist steil. Vom Hauptportal geht es links im Innern des Berner Münsters eine steile Treppe hoch. Stufe um Stufe geht es nach oben, entlang von Kirchenfenstern, durch die man in das Kirchenschiff sehen kann.
Angekommen im Seitenschiff Süd, gelangt man in einen kleinen Aufenthaltsraum mit Werkstatt. An den Wänden hängen Lage- und Einsatzpläne. Es gibt eine Kaffeemaschine. Am Tisch begrüsst mich Peter Völkle. Seit 2006 ist er Betriebsleiter der Berner Münsterbauhütte. Seit 32 Jahren arbeitet der gelernte Steinmetz- und Steinbildhauermeister an gotischen Kirchen.
Starkregen, Hitze, Windböen
Wir gehen jetzt hinaus auf das Hochgerüst. Regen peitscht uns ins Gesicht. «Auch in unserer Arbeit spüren wir die Auswirkungen des Klimawandels», sagt Peter Völkle. Starkregen zeige einem gnadenlos, wo ein Dach undicht sei. «Dann laufen wir alle Dächer ab und schaue nach, ob wirklich alles dicht ist», sagt er. Der Blick geht auch auf die Sandsteinblöcke. «Der Berner Sandstein ist sehr witterungsanfällig. Wenn es regnet, dann saugt der Stein das Wasser auf», schildert Peter Völkle.
Durch die stärker werdenden Winde müssen zudem die Gerüste besser gesichert werden. Auch Hitze im Sommer wird immer mehr zum Problem. Peter Völkle erklärt: «Wie ein Zahnarzt, der eine Füllung stopft, füllen wir mit Mörtel Löcher. Wenn es extrem heiss ist, müssen wir diesen Mörtel mit grösserem Aufwand feucht halten, damit er nicht austrocknet.»
Das Berner Münster ist eine Dauerbaustelle. Alle zwei Jahre fährt Peter Völkle mit einer Hebebühne einmal um das Münster herum. Hält dieser Stein noch?In welchem Zustand sind die Fialen? «Ich berühre alles und schaue, ob etwas wackelt», sagt er. Das ganze Münster wurde inzwischen auch mit einer Drohne komplett aufgenommen. «Aber», betont er, «die wichtigsten Instrumente sind für uns Augen und Hände. Da hilft keine KI.»
«Wie ein steinernes Buch»
Peter Völkle kennt hier jeden Stein. «Ich bin in jedem Gewölbe rumgekrochen, habe jede Wand angeschaut», sagt er. Während wir hoch oben auf den Gerüsten gehen, frage ich ihn, welche Orte er am Berner Münster besonders mag. Sein Blick wandert über die filigranen Strebepfeiler. «Die Vielfalt an unterschiedlichen Steinen hier», schwärmt der Steinmetz.
Noch lieber sei er in einem der Seitenschiffestriche. Dort, wo man «mitten in der Geschichte steht». Was er dort entdecke, sei unglaublich. «Ich sehe beispielsweise Zangenlöcher, die vor hunderten Jahren nicht geschlossen wurden. Man hat das Gefühl, die Leute haben ihren Arbeitsplatz soeben verlassen.»
Auf seiner Tour durch das Berner Münster sehe er täglich Eingriffe, die Steinmetze hinterlassen haben. Es gebe einige Tausend Stellen am Münster, wo sich diese Werksleute im Laufe der Jahrhunderte mit ihrem persönlichen Zeichen verewigt hätten. «Das Berner Münster, ein steinernes Buch» – nicht so Notre-Dame de Paris.
Der Schock über den Brand von Notre-Dame
Das Pariser Wahrzeichen hat keine Münsterbauhütte, in der das Wissen weitergegeben wird. Ganz anders das Münster Bern, wo etwa bewährte Mörtelrezepturen von einer Generation an die nächste weitergegeben werden. «Eine Münsterbauhütte ist das Gedächtnis eines Münsters», sagt Peter Völkle. Der Brand von Notre-Dame ist in den Köpfen der Mitarbeitenden noch immer präsent. Als es am 15. April 2019 dort brannte, sass auch Peter Völkle schockiert vor dem Fernseher. «Ich habe mir ständig überlegt, was ich jetzt tun würde, wenn ich dort wäre. Mein erster Impuls war: Ich fahre sofort nach Paris und helfe ihnen.»
Schon lange vor dem Brand von Notre-Dame habe das Münster-Team versucht, die Brandrisiken zu minimieren: «Wir haben alles unnötige Holz rausgeräumt im Dachstuhl. Man checkt stets die Stromleitungen, ob sie abgesichert sind, und schaut, dass das Brandmeldesystem funktioniert.»
«Nicht so einen Stellenwert»
Würden die Berner auch in Scharen zum Münster strömen, wenn es brennen würde? Nachdenklich sagt Peter Völkle: «Vielleicht, aber ich habe allgemein in der Stadt Bern das Gefühl, dass das Münster keinen solchen Stellenwert hat wie die Dome in Köln oder Ulm. Dort ist man sehr stolz auf diese Bauwerke.» Vielleicht entstehe bei einem durch den Weltkrieg beschädigten Bauwerk eine tiefere emotionale Bindung.
Im Kölner Dombauverein, weiss der Steinmetz, engagieren sich über 17’000 Mitglieder. Im Förderverein des Berner Münsters sind es nur etwa 300. «Häufig wird gesagt: ‹Der Zytglogge-Turm ist das Altstadtsymbol, nicht das Münster.› Das ist in anderen Städten undenkbar», betont Peter Völkle. Die meisten wüssten in Bern nicht mal, was eine Münsterbauhütte sei.
Mit Wattestäbchen und Lupenbrille
Peter Völkle geht auf dem Stahlgerüst einige Meter und öffnet eine Tür. Vor einem breitet sich das Mittelschiffgewölbe aus dem Jahr 1573 aus. 440 Jahre lang blieb es weitgehend unberührt. Nur der Schmutz der Jahrhunderte machte ihm zuletzt arg zu schaffen. Welche Geduld die Reinigung braucht, zeigen hier täglich Restaurator:innen wie Johanna Diggelmann.
Die 36-Jährige steht auf einem hohen Gerüst und reinigt mit einem Wattestäbchen die goldenen Verzierungen eines Wappens an der Decke. Zusammen mit ihren Kolleg:innen fährt sie zudem mit feuchten Reinigungsschwämmchen rund um die Ornamente. Wenn die Steinmetze und Restauratorinnen mit Pinsel und Lupenbrille zu Werke gehen, ähnelt das einer Zahnbehandlung.
Unter dem «Auge Gottes»
Szenenwechsel. Kaum wahrgenommen wird die Baustelle am Westportal Süd. Dort arbeitet Steinmetz und Steinbildhauer Kilian Brügger hinter einer Plastikplane. Mit festem Schuhwerk steht er zwischen Gerüststangen, Kabeln und befestigten Lampen. Seit 42 Jahren arbeitet der Steinmetz am Berner Münster.
Der Steinmetz steht jetzt unter dem «Auge Gottes», einem Relief aus dem 18. Jahrhundert im Tympanon des Portals. Eine mystische Stimmung. Wenn er hier arbeite, dann denke er über das Leben nach. Unter dem «Auge» streicht seine Hand über Figuren. Sind es kleine Hunde? Fabelwesen? «Von einigen Fehlstellen der Figuren habe ich Modelle aus Ton gemacht und sie retouchiert», erklärt er. Er orientiert sich dabei an 120-jährigen Fotos, die neben ihm an einem Gerüst hängen. Nach diesen Modellen werden dann die Ergänzungen aus Mörtel hergestellt.
Filigran arbeitende Restaurator:innen
In seiner Zeit als Steinmetz am Berner Münster hat sich seine Arbeit fundamental verändert: «War ein Stein am Münster defekt, wurde er früher neu gehauen und an die Stelle des alten eingefügt. Heute repariert man kaputte Stellen mit selbst hergestelltem Mörtel und versucht möglichst zu erhalten.» Aus den traditionell arbeitenden Handwerker:innen sind heute filigran arbeitende Restaurator:innen geworden.
Bei seiner Arbeit frage er sich oft: Wie haben die Steinmetze das früher gemacht, ohne die modernen Hilfsmittel und mit einfachen Holzgerüsten? Kilian Brügger hält vor einer dunklen Stelle: «Hier haben sie früher ein Loch gemacht und einen Holzbalken eingeschoben.»
Unten schwillt das Gemurmel der Leute an, die zum Münster strömen. Einsam ist er hier oben nie. Im und am Münster leben Tiere. Die Videoüberwachung zeigt, dass hier ein Marder lebt. Ein Turmfalke ist auf der Turmspitze zu Hause. Und dann dieses Gezwitscher im Portal! Spatzen! «Spatzen schlüpften durch alle Löcher und Ritzen», lacht Kilian Brügger.
«Flaschenpost»
Jeder Steinmetz verewigt sich im Berner Münster mit seinem Zeichen. Auch Kilian Brügger hat sein eigenes Zeichen. Manchmal schiebt er in Löcher und Ritzen des Münsters auch kleine Zettelchen mit Botschaften hinein. «Da ist das Datum drauf und ein Vermerk, wer gerade auf der Baustelle arbeitet, oder eine Notiz zum Weltgeschehen», sagt er. Eine Art Flaschenpost für die Nachwelt. Diese Zettelchen seien sehr versteckt. Wenn man die Turmspitze anheben würde, kämen so einige zum Vorschein. Kilian Brügger weiss: «Ein Münster ist voller versteckter Botschaften und Hinterlassenschaften.»
Infos: wwww.bernermuensterstiftung.ch, www.bernermuensterstiftung.ch/foerderverein