Das Fragment der Kathedrale in Beauvais. Foto: Michael Eichmann

Das Fragment

Von der Anziehung des Unvollendeten

Was fiel nicht alles aus dem ursprünglichen Reiseprogramm heraus? Monets Garten in Giverny, die Kathedrale von Amiens, die Kreidefelsen von Étretat, die Hafenpromenade in Cabourg und und und. Bedauerlich waren diese Verzichte, aber die Fahrt hielt Lektionen bereit, welche die Augen öffneten und zeigten, dass gerade das Fragment eine Fülle an Ahnungen birgt.

Von Béatrice Eichmann-Leutenegger

Zwischen Reims und Rouen liegt Beauvais mit seiner Kathedrale Saint-Pierre, die zu den bedeutendsten Bauten der französischen Gotik zählt und die flache Landschaft der Picardie dominiert.

Dieses Bruchstück einer Kirche ist ein wahres Kunstwerk und zieht wie Schuberts «Unvollendete» oder Mozarts Requiem in den Bann. Denn über der monumental geplanten Kirche schwebt ein kühner Geist, auch wenn der Torso nur aus dem Chor und dem Querschiff besteht und nach Westen mit einer provisorischen Wand abgeschlossen worden ist.

Einst hätte dieser Bau das nahe Amiens übertreffen, hätte Reims und Chartres in den Schatten stellen sollen. Ein ehrgeiziger Bischof hatte sie seit 1225 geplant: die höchste und grösste Kirche der Christenheit. Doch die Bauphasen stockten immer wieder. Denn der wagemutige Konstruktionsentwurf und die unzulängliche Baustatik provozierten Einstürze; ebenso verhinderten Kriege und fehlende Gelder den Weiterbau.

Gleichwohl ist die himmelanstrebende Kirche ein Sieg über die Materie Stein, ein einziges «Sursum corda».

An eine fragmentarische Biografie erinnert Rouen, wo Jeanne d’Arc 1431, im Alter von etwas mehr als zwanzig Jahren, bei lebendigem Leib verbrannt wurde. Den verkohlten Leichnam warf man in die Seine. Man wollte die Schar jener, die schon damals die junge Frau aus Lothringen verehrten, an der Verherrlichung hindern.
 

Ô, Jeanne, sans sépulcre et sans portrait, toi q ui savais que le tombeau des héros est le coeur des vivants…,

sagte 1964 der Autor und Politiker André Malraux in Rouen.


Im Kampf gegen die Engländer war Jeanne kläglich gescheitert und vom französischen Hof im Stich gelassen worden. Eine denkwürdige Verbindungslinie führt zu Thérèse von Lisieux (1873-1897), deren Leben wegen der Tuberkulose ebenfalls früh endete.

Im Karmel schrieb sie im Frühling 1895 ein Theaterstück zum Leben der Jungfrau von Orléans, die erst 1909 seliggesprochen werden sollte. Antrieb war eine geistige Verwandtschaft: die beiden Frauen gemeinsame innere Grösse und Unbedingtheit.

Die Aufführung, in der Thérèse die Hauptrolle übernahm, stiess bei der Kommunität auf Begeisterung. Erhaltene Fotografien weisen darauf hin, dass die Darstellerinnen Perücken trugen und mit «militärischen» Attributen aus Karton und Papier versehen waren, entworfen von den Novizinnen.

Fast endlose Skrupel hätten dazu führen können, dass ein Dichter aus der Normandie nichts als unvollendete Werke hinterlassen hätte. Gustave Flaubert (1821-1880) peinigte sich mit Selbstkritik, verwarf immer wieder, ächzte und stöhnte in seiner Schreibklause. Nervöse Anfälle, hinter denen man eine Epilepsie vermutete, Angst- und Migräneattacken warfen ihn zurück.

Doch gilt der Autor von «Madame Bovary» heute als Stilist und Erneuerer des französischen Romans. Er stellte die Sprache über den Inhalt und wurde zum Vorbild späterer Autorinnen und Autoren, wenn auch viele seiner Zeitgenossen ihn nicht verstanden hatten und Flaubert sogar einem Gerichtsverfahren unterworfen wurde.

Im Lauf der Recherchen für sein letztes Werk, den Schelmenroman «Bouvard et Pécuchet», hatte er 1500 Bücher gelesen – doch blieb die Satire über die beiden immer wieder scheiternden Kopisten unvollendet.

Allzu früh aus dem Leben wurden jene Soldaten gerissen, die im Juni 1944 an der Landung der Alliierten in der Normandie beteiligt gewesen waren und Europa vom Nazi-Joch befreiten. Überall stösst man auf Erinnerungsschauplätze, Museen, Friedhöfe und Porträts von jungen Männern.

In Ouistreham etwa hängen ihre Fotos den Strassen entlang - eine Galerie der Frühverstorbenen. Was wäre aus ihnen geworden, hätten sie zurückkehren können? Wer trauerte um sie? Dies ist die quälendste Version des Fragmentarischen, und unversehens blicken uns aus den Gesichtern die Augen der Männer aus Charkiw und Mariupol an.

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