Erschreckend, pietätlos oder als Teil des Rituals tröstlich? Der aufgebahrte ehemalige Papst Benedikt XVI. im Petersdom. / Foto: Imago/Zuma Wire

Der Anblick der Toten

Editorial

Eine meiner ersten Erinnerungen ist die tote Grossmutter. Sie verbrachte ihre letzten Monate krank und schwach in einem Spezialbett in unserem  Wohnzimmer, gepflegt von meiner Mutter. An einem Samstagmorgen starb sie. Ich war vier Jahre alt. Ich sehe ihren Leichnam auf dem Bett, ich sehe  geliebte Menschen kommen und gehen, Verwandte mit Tränen in den Augen nehmen Abschied. Irgendwann kamen die Bestatter. Es berührt mich im  Nachhinein immer noch, gleichzeitig hatte es damals etwas Unheimliches.

Der ehemalige Papst Benedikt XVI. starb am 31. Dezember. Sein Leichnam wurde zunächst im Kloster, wo er lebte und später im Petersdom im Vatikan öffentlich aufgebahrt. Bisweilen hörte ich den Satz, das sei unmöglich, pietätlos,  unwürdig, das wolle man nicht sehen.

Das ist mir unverständlich. Nie ist mir die katholische Kirche näher als in den letzten Dingen. Die Aufbahrung  beispielsweise gibt auf eine besondere Art Gelegenheit, Abschied zu nehmen. In verschiedenen Gegenden kommt es noch heute ab zu vor, dass die  Verstorbenen bis zur Beerdigung in einer Totenkapelle aufgebahrt werden. Die öffentliche Aufbahrung ist Teil des Rituals, des Abschiedsprozesses. Der  Anblick aufgebahrter Toter ist für mich berührend und erschreckend. Es gibt eine Ahnung vom Leben und vom Tod. Ich habe die Realität des Todes, so bilde ich mir heute ein, ein bisschen begriffen. Es bleibt für mich zudem tröstlich, dass die tote Grossmutter bis zur Beerdigung nicht allein war.

Papst Franziskus  feierte für den verstorbenen Benedikt XVI. die Totenmesse. Das geschah alles mit grosser Andacht. Am Ende der Zeremonie gab es Applaus. Die Messe war gelesen, die Riten vollzogen – grosse Zuversicht machte sich breit. Es ist gut, der Himmel kann kommen. Nicht nur für den Verstorbenen, sondern für uns  alle, irgendwann.

Andreas Krummenacher
«pfarrblatt»-Chefredaktor

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