Foto: Kavitha Gobet

Die Wirklichkeit der Wolken

Kolumne aus der Inselspitalseelsorge

Vor Kurzem hat mir eine Nachbarin ein Foto per Whatsapp geschickt: eine Wolke über den Bergen. Die Wolke sieht aus wie eine Friedenstaube. Die Nachbarin schrieb, das Foto solle «ein kleines Zeichen des Friedens» sein.

Ich nahm die Nachricht in der Flut der Mails, SMS und Whatsapp-Nachrichten kurz wahr und ging dann zur Tagesordnung über. Ich dachte: Okay, das ist wieder eines der vielen Bilder, die jemand mit einem Fotobearbeitungsprogramm geschönt hat, und das jetzt weltweit durch die sozialen Medien geistert. Bestimmt bekomme ich es in den nächsten Tagen noch von jemand anderem zugeschickt. Ich habe mich bei der Absenderin nicht einmal dafür bedankt.

Als ich die Nachbarin ein paar Tage später beim Einkaufen treffe, fragt sie mich, was ich von ihrem Foto halte. Ich spüre, dass das Bild wichtig für sie ist. Ich beginne zu zweifeln: Hatte es diese Wolke wirklich gegeben? Hatte die Nachbarin das Foto vielleicht doch selbst gemacht? Ich stammle etwas von «strenge Arbeitswoche» und «bin noch nicht dazugekommen, zu antworten».

Das lässt meine Nachbarin mal kommentarlos so stehen. Sie erzählt, dass sie ein Wochenende in den Bergen verbrachte. Und als sie beim Wandern eine Pause machte – da zog diese Friedenstaubenwolke an ihr vorbei. Zum Glück hatte sie ihr Smartphone zur Hand und konnte mehrere Fotos machen. Das Beste hatte sie mir geschickt.

Sie holt ihr Natel aus der Tasche und zeigt mir auch die anderen Fotos, auf denen der Vogel anfänglich klar zu erkennen ist, sich aber im Laufe der Zeit verflüchtigt. Da gestehe ich ihr meine Fotobearbeitungsprogramm-Fantasie. Sie reagiert weder enttäuscht noch beleidigt … sondern sie lacht. Sie lacht jenes souverän-grossmütige Lachen, das mir zu verstehen gibt: «Ah, ich mache also so gute Fotos, dass du denkst, sie seien mit einem Bearbeitungsprogramm optimiert.»

So kann man es auch deuten. Das nenne ich souverän. Puh, Gott sei Dank. Wieder etwas gelernt.

Lessons learned:

1. Sei skeptisch gegenüber deinem eigenen Kleinglauben.
2. Trau der Wirklichkeit mehr zu.
3. Vermute nicht hinter jedem Wunder, dass es Menschenwerk ist.
4. Wenn du nicht sicher bist: Frag nach.
5. Hab Geduld mit denen, die die Wirklichkeit nicht gleich erkennen.

Hubert Kössler

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