«Auf Distanz zu sein kann erst recht Nähe bedeuten, und Kreativität kann dort entstehen, wo Selbstverständliches wegfällt.» Foto: Pia Neuenschwander

Du kannst, denn du sollst

Christina aus der Au zur Coronakrise aus ethischer Sicht.

Die aktuelle Lage ist das Coronavirus. Dieses herrscht in diesen Tagen nicht nur über die Medien, sondern auch über das gesamte Denken und Tun, über das Planen und Einkaufen der Menschen. Was kann die Ethikerin da noch sagen, das nicht sofort von Zahlen und Statistiken, von Desinfektionsmitteln und Hamsterkäufen hinweggeschwemmt würde?


Von Christina Aus der Au Heymann, Theologin und Philosophin


Oder noch viel schlimmer: was nicht im Halse steckenbleibt angesichts von überforderten Spitälern, überarbeitetem Pflegepersonal, verzweifelten Angehörigen und einsamen Sterbenden? Was kann daran noch ethisch reflektierbar sein? Das einzige, was wir tun können, ist doch nur noch, Tag für Tag die Zeitungen aufzuschlagen, die entsprechenden Webseiten aufzurufen, zur Kenntnis nehmen, wie die Welt heute aussieht und darauf reagiert.

«Du kannst, denn du sollst!», höre ich in meinem Kopf Immanuel Kant sagen, den grossen, deutschen Ethiker des 18. Jahrhunderts. Du kannst: Du, Mensch, kannst als einziges Lebewesen mitten im unbarmherzigen Wirken der Natur dir die Freiheit nehmen, nicht einfach reflexhaft zu reagieren, sondern zu handeln. Diese Freiheit des Menschen ist bei Kant in seiner Vernunft begründet, die uns klar macht, dass wir in unserem Handeln immer die Würde aller Menschen zu respektieren haben.

Dann auch entsprechend zu handeln – das ist dann nicht nur eine vernünftige, sondern auch eine ganz leibliche Sache. Das Wort Handeln hat in seinem Wortstamm zu tun mit der Hand. Und Hände kann ich benützen, um Mauern zu bauen, um Dinge zusammenzuraffen, um das Meinige festzuhalten. Oder um sie dem Anderen entgegenzustrecken, um jemandem etwas zuliebe zu tun, um zu geben.

Das geschieht gerade in dieser aktuellen Lage auf eindrückliche Art und Weise, ganz konkret leiblich der Einsatz der Jüngeren für die Älteren, der Gesunden für die Kranken, der Pflegenden für die Patient*innen. Und es geschieht auch virtuell: Die Hände braucht man auch, um auf der PC-Tastatur Worte und Sätze zu tippen. So liest man in den sozialen Netzwerken von engagierten Menschen, die etwas auf die Beine stellen, die Mutmacher-Posts und kreative Ideen teilen, die einander unterstützen und begleiten.

Ich jedenfalls bin beeindruckt von all den Menschen, die in dieser Krise nicht nur erschreckt und egoistisch reagieren, sondern die in Freiheit handeln, die den Anderen sehen und ihre Hände denjenigen entgegenstrecken, die sie brauchen. Natürlich mit den nötigen zwei Metern Abstand, und trotzdem erreichen sich ihre Hände, und die Hilfe kommt an. Das sind Menschen, die ihr Menschsein wirklich leben. Sie entdecken, dass sie können, was sie sollen.

Und ich hoffe, dass unsere Hände – wenn das alles einmal vorbeisein sollte – diese Haltung bewahren. Die sozialen Netzwerke können tatsächlich für Soziales genutzt werden. Auf Distanz zu sein kann erst recht Nähe bedeuten, und Kreativität kann dort entstehen, wo Selbstverständliches wegfällt. Aber ich hoffe auch, dass wir neben diesem wahrhaft menschlichen Handeln das Hirn, die ebenso menschliche Vernunft, nicht vergessen. Dass wir nicht kopflos reagieren, nicht panisch hamstern und nicht blind auf jedes Youtube-Video und jedes Wundermittel hereinfallen. Nicht jede Reaktion ist vernünftig. Und nicht jede Meinung ist es wert, mitgeteilt zu werden. Es gibt Expert*innen – und es gibt Marktschreier*innen. Lasst die ersteren ihre Arbeit tun und ignoriert die letzteren.

Und schliesslich gehört zu Hand und Hirn, so hat es Johann Heinrich Pestalozzi formuliert, auch das Herz. Im Alten Testament ist das Herz der Ort, an dem sich der Mensch anrühren und bestimmen lässt. Der Ort, an dem unsere Hände und unsere Vernunft befreit werden vom Kreisen um uns selbst. Der Ort, an dem uns der lebendige Gott inmitten von Solidarität und Kreativität, und auch inmitten von Trauer und Klage, unendlich sanft in seinen Händen hält.

 

 

Prof. Christina Aus der Au Heymann ist Theologin und Philosophin

 

 

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