«Viele bedankten sich, es brauche jetzt diese Transparenz.» Nicolas Betticher. Foto: Ruben Sprich

«Ein Bischof kann oft nur erahnen, wie er handeln soll»

Im Gespräch: Nicolas Betticher. Er nennt Wege aus der Krise um sexuellen Missbrauch in der Kirche

Für den Berner Pfarrer Nicolas Betticher* gibt es aus der aktuellen Krise rund um sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche einen Ausweg. Es brauche eigene Gerichte, die Bischöfe dürfen nicht länger gleichzeitig Richter, Gesetzgeber und höchste Amtsträger sein. Er hat konkrete Fälle von Vertuschung und Missbrauch nach Rom gemeldet.

Interview: Andreas Krummenacher

Die Vorstudie zum sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche Schweiz bestätigt, dass auch hier Missbrauch keine Seltenheit war. Am 10. September machte ausserdem der Sonntagsblick publik, dass Schweizer Bischöfen, die noch im Amt sind, Täter mutmasslich geschützt haben. Die Vorwürfe sind so massiv, dass der Vatikan Bischof Joseph Bonnemain als Sonderermittler eingesetzt hat.

Ins Rollen gebracht hat das Nicolas Betticher, Pfarrer der Pfarrei Bruder Klaus Bern. Im Fokus der Anschuldigungen stehen etwa Jean-Marie Lovey (73), Bischof von Sitten; Charles Morerod (61), Bischof von Lausanne, Genf und Freiburg oder Weihbischof Alain de Raemy (64).

«pfarrblatt»: Hatten Sie viele Reaktionen auf die Berichterstattung vom 10. September, als der Sonntagsblick über ihren Brief berichtet hat. Wie war der allgemeine Tenor?

Nicolas Betticher: Es gab sehr viele Reaktionen. Schriftlich und telefonisch. Ich war sehr überrascht, denn es gab keine negativen Rückmeldungen. Viele bedankten sich, es brauche jetzt diese Transparenz.

Hatten Sie einen Einfluss auf den Publikationszeitpunkt?

Das war clever vom Sonntagsblick. Die Fakten aber sind die Folgenden:

1. Die Bischofskonferenz beschloss die historische Untersuchung des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche Schweiz. Die Vorstudie liegt jetzt vor. Diese Untersuchungskommission der Universität Zürich arbeitete zwei Jahre lang am Thema. Ich selbst wurde drei Mal befragt, es gab ein Treffen mit einer Historikerin. Ich habe ihr alles, was ich zum Thema Vertuschung und Missbrauch weiss, mitgeteilt. Jetzt startet erst die eigentliche Untersuchung. Diese Fälle, die ich genannt habe, werden jetzt untersucht. Sie werden bewertet und gegebenenfalls wird die Staatsanwaltschaft involviert.

2. Ich habe eine Meldepflicht gegenüber dem Bischof und dem Papst. Papst Franziskus hat die Priester aufgefordert, sie sollen es dem Heiligen Stuhl melden, sollten sie im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch oder Machtmissbrauch Kenntnisse haben. Ich habe also einen Brief verfasst, acht Seiten, den ich am 25. Mai Nuntius Martin Krebs, dem päpstlichen Botschafter hier in Bern, geschickt habe. Dies verbunden mit der Bitte, er soll den Brief nach Rom weiterleiten.

3. Die E-Mail mit dem Brief im Anhang ging nicht nur an den Nuntius, sondern an einen Verteiler mit wichtigen Personen. Jemand daraus muss den Brief an Raphael Rauch vom Sonntagsblick weitergeleitet haben. Das habe ich am 8. September erfahren. Es ist mein Brief, das kann ich nicht verneinen.

Ist Ihnen das unangenehm?

Auf eine gewisse Art schon. Es ist ein interner Brief, ein vertraulicher Brief. Er gelangte an die Öffentlichkeit. Wer das gemacht hat, das weiss ich nicht. Es ist passiert, jetzt muss ich die Verantwortung dafür übernehmen, ich kann mich nicht verstecken.

Wie beurteilen Sie die Verfehlungen der genannten Bischöfe und Weihbischöfe, sind das schwerwiegende Fehler, strafbare Handlungen oder marginale Verfahrensfehler?

Ich nehme grundsätzlich zum Verfahren und zum Inhalt nicht Stellung. Es läuft nun ein vatikanisches Verfahren. Ob gravierend oder nicht-gravierend, das entscheidet Rom.

Was wäre das beste Resultat?

Das alles ist ein kleiner Stein auf der grossen Baustelle zur Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche. An der Präsentation der Vorstudie der Universität Zürich wurden generelle Themen und Diskussionen aufgeworfen, viele Anregungen für die eigentliche Untersuchung wurden gemacht. Es gab ein paar Fallbeispiele.

Die eigentliche Arbeit steht erst bevor. Dabei werden konkrete Fälle untersucht und analysiert, allenfalls an die Staatsanwaltschaften weitergeleitet und auch kommuniziert. Es beginnt jetzt ein langer Prozess der Aufarbeitung und der Kundmachung dieser Aufarbeitungen. Ich erwarte mir am Ende nicht nur, dass wir zur Kenntnis nehmen, dass wir Fehler gemacht haben und dass es Prävention braucht, sondern dass wir unsere Strukturen durchschauen, analysieren, überblicken und feststellen, dass es so nicht weitergehen kann.

In jedem konkreten Fall wird klar, dass es ein Problem ist, dass der Bischof einmal spiritueller Vater, dann höchster Amtsträger, dann Richter und auch Gesetzgeber ist. Das geht nicht auf, es gibt Kollisionen innerhalb dieser Ämter. Man muss sie entflechten. Es gibt auch keine Aufsichtsbehörde. Es gibt Anlaufstellen und Expertenkommissionen. Das ist gut.

Bei einem konkreten Fall wird diese Kommission die Staatsanwaltschaft informieren und parallel dazu den Bischof. Dieser muss dann handeln. Das ist aber ein Problem, denn das Kirchenrecht ist hier sehr unpräzise und sehr allgemein. Ein Bischof kann oft nur erahnen, wie er agieren soll. Es ist fast schon vorprogrammiert, dass er Fehler macht.

Viele Gläubige sind wütend und ratlos. Gibt es überhaupt noch einen Weg aus dieser Krise heraus?

Die Bischöfe wollten diese Aufarbeitung, diese Untersuchung. Das ist positiv. Es ist jetzt mit der Vorstudie nur ein bescheidener Beginn. Die Ratlosigkeit wird noch grösser, weitere Fälle werden folgen, nächste Untersuchungen und Medienberichte zum Thema stehen an. Ich habe die Medienverantwortlichen der Bischofskonferenz, des Bistums Basel gebeten, sie sollen uns Seelsorgenden klare Botschaften seitens der Bischöfe geben. Es kommt aber nicht viel.

Sogar Bischof Joseph Maria Bonnemain sagt, er fühle sich schlecht in der Rolle des Untersuchungsrichters. Wieso nimmt er die Rolle dann an? Die Ratlosigkeit ist also sogar bei den Bischöfen zu spüren. Es führt meiner Ansicht nach nichts daran vorbei, die Gerichtsbarkeit in der Kirche zu klären.

Es braucht pro Sprachregion ein kirchliches Gericht und diese Kirchengerichte nehmen sich dieser Fälle an, nicht die Bischöfe, sondern die Gerichte. Das würde alles verändern. Das wäre eine Prävention selbst. Jedes Urteil wäre eine Prävention. Dazu braucht es sicher den Mut ein Partikularrecht einzusetzen, natürlich mit dem Einverständnis des Heiligen Vaters. Ich bin mir aber sicher, dass der Papst selbst alles daransetzt, dass wir die Wahrheit gemeinsam suchen.

 

*Nicolas Betticher (*1961), Dr. theol., Dr. iur. can., Theologe und Kirchenrechtler, Pfarreileiter Bruder Klaus Bern und Offizial des interdiözesanen kirchlichen Gerichts.

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