Gedenken an die Aushungerung der ukrainischen Bevölkerung vor 85 Jahren. Foto: Pia Neuenschwander

Gedenken an ein hier wenig bekanntes Verbrechen

Gedenken an die systematische Aushungerung der ukrainischen Bevölkerung vor 85 Jahren

Mit einem besonderen Sonntagsgottesdienst gedachte die Ukrainische Gemeinde in der Dreifaltigkeitskirche in Bern am 14. Oktober des sogenannten Holodomors, der systematischen Aushungerung der ukrainischen Bevölkerung durch den sowjetischen Diktator Stalin in den Jahren 1932/33. Ebenfalls teil nahmen die Botschafter von Polen, Georgien und den USA.


Von Hannah Einhaus


«Gott, bewahre die Menschen davor, so etwas wie den Holodomor je wieder erleben zu müssen», betete vergangenen Sonntag die gebürtige Ukrainerin Lyudmyla Zuber im Gedenkgottesdienst in der Dreifaltigkeitskirche in Bern. Hunderte Menschen waren gekommen, um der Tötung durch Hunger vor 85 Jahren zu gedenken, einem Ereignis, über das erst in den letzten 25 Jahren systematischer geforscht und gesprochen wird, und das in Schweizer Schulbüchern bisher unbekannt ist: Vor gut hundert Jahren galt die Ukraine mit ihren fruchtbaren Böden als die Kornkammer Europas.

Nach der Russischen Revolution wurde sie Teil der Sowjetunion. Die Regierung in Moskau beschloss in ihrem Fünfjahresplan von 1927, die Ländereien der ukrainischen Bauern unter Zwang zu kollektivieren und durch die Mechanisierung die Ernten und die Exporte zu steigern. Allerdings stellten sich zahlreiche Bauern gegen diese Enteignung, und Misswirtschaft führte zu Ernteausfällen.

Sieben bis zehn Millionen Hungertote

So griff Diktator Stalin im Herbst 1932 zu drastischen Massnahmen: Er zwang die grösstenteils bäuerliche Bevölkerung der Ukraine, unrealistische Erntebeträge abzuliefern. Wer das Soll an Getreide verfehlte, musste dem Staat zur Strafe das 15-Fache an Fleischmengen aushändigen. Dass dies misslingen musste lag, auf der Hand, doch die sowjetischen Behörden taten alles, um die ukrainische Bevölkerung weiter zu schikanieren, plünderten Dörfer, beschlagnahmten Saatgut und Ernten, entrissen den Menschen die letzten Erbsen oder Brotscheiben und hinderten sie an der Flucht in die Städte, in andere Sowjetrepubliken oder ins Ausland, um dort ihr Glück zu finden. In der Bevölkerung kam es zu Kannibalismus.

Die Folge war, dass bis zum Sommer 1933 geschätzte sieben bis zehn Millionen Menschen in der Ukraine verhungerten, rund ein Drittel der ganzen Bevölkerung, darunter zahlreiche Kinder. Der Anteil ukrainischstämmiger Bürger auf dem Gebiet der Ukrainischen Sowjetrepublik sank durch Umsiedlung und Hunger von 1920 bis 1939 von 80 auf 63 Prozent. Dennoch exportierte die sowjetische Regierung in dieser Hungerszeit 1,7 Millionen Tonnen Getreide aus der Ukraine und anderen Kornkammern und aktivierte so eine positive Propaganda über die dortige Lage. Hilfsmassnahmen wurden nicht nur nicht ergriffen, sondern verhindert und verboten. Pfarrer Christian Schaller betonte im Gedenkgottesdienst: «Alle Nachkommen sind bis heute von diesem Ereignis betroffen, alle haben damals Angehörige verloren.»

Die Debatte um den Völkermord

Der Holodomor wurde während Jahrzehnten verschwiegen. Über den grossen Hunger von 1932/33 würde höchstens privat gesprochen. Die im Raum Bern lebende Ukrainerin Lyudmyla Zuber erinnert sich im Gespräch mit dem «pfarrblatt» an ihre Urgrossmutter, die den Holodomor überlebt hatte: «Sie ermahnte uns Kinder, kein Stück Brot wegzuwerfen, und wir mussten es küssen, bevor wir es einem Tier geben wollten». Erst mit der Auflösung der Sowjetunion und der Gründung des heutigen ukrainischen Staates begannen Historiker, die damalige Hungersnot systematisch zu erforschen. Bis heute wird gestritten, ob es sich beim Holodomor um einen Völkermord oder um eine grosse Hungerskatastrophe handelt.

Für die offizielle Seite der Ukraine steht fest: Der Holodomor war ein Genozid. Obschon auch andere Teilrepubliken der Sowjetunion in der gleichen Zeit von Hungersnöten betroffen war, wurde nirgends dermassen systematisch die Flucht vor dem Hunger verunmöglicht. Ausserdem waren von den betroffenen Opfern fast 90 Prozent ethnische Ukrainer. In zahlreichen Telegrammen Stalins sei auch die Rede von der «Lösung der ukrainischen Frage» gewesen. In den letzten zehn Jahren haben sich rund 15 Staaten hinter diesen Standpunkt gestellt, dazu gehören Polen, Georgien und die USA, deren Botschafter am Sonntag in Bern ebenfalls am Gedenkgottesdienst teilnahmen, ebenso der Vatikan.

Die Regierung Russlands, die wichtigste Rechtsnachfolgerin der Sowjetunion, sieht im Massenhunger in der Ukraine hingegen vielmehr eine Naturkatastrophe, gefördert durch Misswirtschaft und Massnahmen im Klassenkampf gegen widerspenstige Kleinbauern, aber keine systematische Vernichtung der ukrainischen Bevölkerung. Sie lehnt damit auch die Verantwortung für allfällige Wiedergutmachungen ab. Das EU-Parlament hat den Holodomor im Jahr 2008 zwar nicht als Genozid, aber als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnet.

«Nie wieder»

Die Geschichtsschreibung um den Holodomor und das jährliche Gedenken jeweils am vierten Samstag im November haben in den letzten 15 Jahren eine wichtige Rolle gespielt bei der Suche nach der ukrainischen Identität und nationalen Eigenständigkeit. Sie ist ein weiterer Schritt in der Loslösung aus dem einst sowjetischen und heute russischen Einflussgebiet und der Annäherung an den Westen. Mit der Annexion der Krim durch Russland und dem Krieg um die Ostukraine haben sich die russisch-ukrainischen Spannungen in den letzten Jahren zunehmend verschärft. Zu einem weiteren Höhepunkt in diesem Prozess kam es soeben am 10. Oktober: Die ukrainisch-orthodoxe Kirche wird vom ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel seither offiziell als eigenständige Kirche anerkannt. Eine über 300-jährige Unterordnung hat ein Ende.

Die ukrainische Regierung begrüsst und unterstützt die Entstehung einer eigenständigen ukrainisch-orthodoxen Landeskirche. Wie die ukrainische Botschaft in Bern auf Anfrage mitteilte, habe der ukrainische Präsident Petro Poroschenko am 14. Oktober betont, dass es keine Staatskirche in der Ukraine sein werde. Er garantiere, dass die Behörden die Wahl derjenigen respektieren würden, die sich für den Verbleib in der russisch-orthodoxen Kirche entscheiden.

Im Gottesdienst letzten Sonntag bedankte sich der ukrainische Botschafter Artem Rybchenko bei der Kirchgemeinde Dreifaltigkeit: «Gute menschliche Beziehungen sind das wichtigste», betonte er. Laut Pfarrer Christian Schaller kommen regelmässig 20 bis 30 griechisch-katholische Ukrainerinnen und Ukrainer in die «Dreif», bei grösseren Festlichkeiten seien es 80 bis 100 Leute. Sie bilden wiederum nur eine vergleichsweise kleine Gruppe unter ihren Landsleuten, die mehrheitlich der orthodoxen Kirche angehören.

Eine gute Freundschaft scheint sich mit dem Nachbarland Polen zu entwickeln: So wohnte der ukrainische Botschafter vor einer Woche auf einem Luzerner Friedhof der Ehrung eines polnischen Diplomaten bei, der verfolgte Juden vor dem Holocaust gerettet hatte (Bericht auf «pfarrblatt» online). Diese Teilnahme sei, so Rybchenko in einer Medienmitteilung, «eine Botschaft an alle Beteiligten, dass solche Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie der Holocaust und der Holodomor niemals wiederholt werden dürfen».

 

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