Wer nimmt (sich) die Zeit? Foto: Berggeist007/pixelio.de

Geschenkte Wartezeit

Gabriele Berz darüber, wie ein verspäteter Zug ein Innehalten möglich macht.

Ich stehe am Bahnhof, und der Zug hat Verspätung. Auf dem Perron wird laut geschimpft und nervös telefoniert. Auch ich bin ein wenig verärgert. Schliesslich will ich mir im Büro Gedanken machen für die «pfarrblatt»-Kolumne «Wir nehmen uns die Zeit».

Gern würde ich meine «Bürogedanken» auch noch mit dem Bettag verbinden. Stattdessen aber stehe ich ungeduldig am Bahnhof, als ich plötzlich zu ahnen beginne, dass es ja an mir liegt, ob mir die Zeit, die ich herumstehe, genommen wird oder ob ich sie mir nehme: zum Schauen, zum Anhalten, zum Nachdenken.

Ich atme also tief durch und denke: Es ist eigentlich ein Riesenglück, in einem Land zu leben, wo es selbstverständlich ist, dass ich mich frei und sicher von einem Ort zum anderen bewegen kann. Es ist ein Riesenglück, beim Blick aus dem Zugfenster immer neu mit einer unglaublichen Fülle an Naturschönheiten beschenkt zu werden. Und das alles habe ich mir nicht verdient und könnte mir deshalb gerade jetzt mal Zeit nehmen, zufrieden und glücklich zu sein und wenigstens in Gedanken kräftig für all das Danke zu sagen …

Ein wenig beschämt wird mir bewusst, wie gedankenlos ich oft unterwegs bin. Selten denke ich an die, die für mich Gleise bauen, Lokomotive fahren, Billette kontrollieren, WCs putzen, Kaffee verkaufen und sich sogar beschimpfen lassen, wenn der Zug zu spät ist, obwohl sie nichts dafür können. Wie achtlos bin ich aber auch oft gegen mich selbst und frage nicht, woher ich komme und wohin ich gehe und warum ich das tue, was ich tue, oder auch nicht.

Und ich denke, dass ich mir gerade jetzt Zeit nehmen könnte, vielleicht nicht gerade Busse zu tun, aber doch innezuhalten und nachdenklich zu werden über all das Unfertige und Verbogene in der Welt und in mir. Und während der Zug kommt, bleibt mir immerhin noch ein Moment Zeit zu beten, dass wir vielen Menschen mit all unseren Koffern und Rucksäcken, Computer- und Handtaschen, mit all unseren Plänen und Träumen, Fragen und Ängsten, behütet und zufrieden irgendwann am Ziel unserer Reise ankommen.

 

 

 

Gabriele Berz-Albert

… ist Gemeindeleiterin in Spiez. Sie mag wertschätzende, achtsame Menschen. Geduldig spürt sie im Alltag Licht- und Gottesmomente auf.

Illustration: schlorian

 

 

 

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