Marie-Louise Beyeler macht jedes Jahr Ferien im Kloster St. Johann. Für die Präsidentin der Berner Landeskirche sind es ganz besondere Wochen. Im «pfarrblatt» erzählt sie von ihren Eindrücken und ihrer Liebe für den besonderen Ort.
Marie-Louise Beyeler*
Mit dem Klingeln an der Klosterpforte beginnt für mich jedes Jahr eine ganz besondere Ferienzeit. Die Tage im Kloster Son Jon in Müstair sind für mich Ruhe, Erholung, Inspiration, Begegnung mit Gott und der wunderbaren Bergwelt – ich könnte sie aus dem Jahreslauf nicht mehr wegdenken.
Claudia, die Gästebetreuerin, heisst mich willkommen, händigt mir den Schlüssel für mein Zimmer aus und erinnert mich daran, dass das Abendessen pünktlich um 18.00 beginnt. Nun braucht es etwas Zeit zum Ankommen… Anfangs kreisen die Gedanken noch wirbelnd um die Arbeit, die Familie, um Liegengebliebenes und inskünftige Erwartungen.
Ein langer Spaziergang führt mich am ersten Nachmittag stets durch das Klostertor hinaus, entweder ein Stück dem Rombach entlang oder hinauf ins einsame Val Avigna. Das hilft beim Abschalten und nimmt mich hinein in den Rhythmus der kommenden Tage: Laudes, Eucharistiefeier, Frühstück, Bergwanderung, Vesper, Abendessen, Komplet. Fast, aber nicht ganz benediktinischer Tagesablauf, für meine Ferien sozusagen abgewandelt von ora et labora zu ora et ambula**…
Es ist eine reiche Zeit. Frühmorgens geht’s in die dunkle Klosterkirche, wo die Schwestern die Laudes beten. Nach der Anordnung in ihren Stundenbüchern singen sie die Psalmenverse, das Benedictus, hören auf die Lesung und beten. Nach einer stillen kurzen Pause kündigt das Glöcklein die Eucharistiefeier an. In deren Verlauf brechen bei schönem Wetter die ersten Sonnenstrahlen durch ein Kirchenfenster, mischen sich an Hochfesten mit dem Weihrauch, erhellen das Geschehen auf einzigartige Weise. Der Tag kann beginnen…
Beim Weitergehen klingen dann vor allem die uralten Psalmenverse nach. Vers reiht sich an Vers, Befremdliches an Erbauendes, manchmal lichtet sich auf einmal die Bedeutung längst bekannter und gleichwohl ungewohnter Worte. Das morgendliche Psalmodieren geht jetzt quasi nahtlos über in die Bergwanderungen: So wie in der Laudes Vers für Vers gebetet wird, geht es nun Tritt um Tritt steil hinauf in hochalpine Gefilde, Atemzug um Atemzug, zuerst durch bunte Blumenwiesen, dann durch Lärchen- und Arvenwälder, über Alpweiden und schliesslich über Kraxeltreppen und Gratpfade durch Münstertaler Granit einem Gipfel entgegen. Das Hochsteigen und die Bibelworte verbinden sich im Lauf des Tages zu einem einzigen, wunderbaren Gebet, das dann seinen Abschluss in der Komplet nach dem Abendessen findet. Eine ruhige Nacht und ein gutes Ende gewähre uns, o Herr…
Vielleicht ist es gerade das, was ich jedes Jahr dankbar aus dem Kloster Müstair mitnehme: Unermüdlich, wiederkehrend singen die Schwestern in den Gebetszeiten die Psalmworte. An guten und an schwierigen Tagen, unter allen Umständen. Im Wissen um die Turbulenzen in der Welt. Im Blick auf ihre eigene ungewisse Zukunft. Im Vertrauen darauf, dass vorgezeichnete und unbekannte Wege mit Gottes Hilfe Schritt für Schritt weiterführen. Mit meinem Gott überspringe ich Mauern, heisst es im Psalm 18. Es tut gut, den Sprung über die Klostermauern, in die Stille hinein zu wagen – und dann festzustellen, was für eine Kraft von dort wiederum in die andere Richtung, in die Welt hinausgeht.
*Marie-Louise Beyeler ist Theologin und Präsidentin der Landeskirche Bern. Sie ist Mitglied des Präsidiums der RKZ und der «Begleitgruppe Synodaler Prozess» im Bistum Basel.
** ora et labora: bete und arbeite; ora et ambula: bete und wandere
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