Die Lebenskräfte stärken. Foto: Michal Vrba, Unsplash

In Verbindung mit allem

Kraftorte und ihre Bedeutung

Die Tradition, sich mit inneren Anliegen an bestimmte, energiespendende Orte zu begeben, ist nicht neu. So berichten die Bücher aller Religionen von heiligen Orten, an denen Propheten ihre Visionen und Erleuchtungen empfangen, wo sich Wunder ereignet, wo Ratsuchende Antworten erhalten oder Kranke Linderung erfahren hätten.

Von Nicole Arz

Corona-bedingt war man diesen Sommer bestrebt, den Ausflugswilligen das Inland schmackhaft zu machen, und omnipräsent kursierten Listen mit den schönsten Bergseen, einsamsten Tälern und lohnendsten Aussichtsgipfeln. Magische Schauplätze voller Einzigartigkeit, die es zu erwandern und zu besuchen galt, an denen die Batterien aufgeladen und die Lebenskräfte gestärkt werden könnten – Kraftorte voller Ruhe und Schönheit, mit mystischer Ausstrahlung.

Nun mag es kein Zufall sein, dass sich der als Kraftort angepriesene Berggipfel oder Wasserfall in schönster Naturlandschaft befindet, dennoch ist es nicht nur der atemberaubende Ausblick oder die Einmaligkeit einer Felsformation, die den Kraftort ausmachen. Die Geomantik misst und erpendelt dort Energieströme und Schwingungen, die sich zwar wissenschaftlich nicht nachweisen lassen, aber durchaus spürbar seien. Die Rede ist von Wohligkeit, von Gefühlen, die als aufbauend, anregend und erholsam beschrieben werden, einer Inspiration für Körper und Geist gleichkämen.

Kraftorte seien Quellen von Kraftlinien, die sich über alle Kontinente erstreckten und damit Teil eines umfassenden energetischen Zusammenspiels, liest man bei der Geobiologin Blanche Merz. Und weiter: Naturverbundene Menschen hätten schon immer gewusst, wie sie ihre Bioenergie stärken könnten: indem sie sich beispielsweise unter einen gesunden Baum stellten, wo das geschwächte bioelektrische Feld des Menschen durch die Lebenskraft des Baumes aufgeladen werden könne.

Eine These, die auf der esoterischen Idee der Ganzheitlichkeit und Einheit beruht: alles ist mit allem verbunden. Die Kelten mit ihrer starken Verbindung zur Natur, hätten Kraftorte erspüren können und so ihre sakralen und kultischen Stätten an genau solchen Orten errichtet. Das Christentum hat hier später profitiert, denn heute stehen an diesen ehemaligen Kultstätten oft Kapellen, Wallfahrtskirchen oder Klöster und die dort spürbare Energie kann christlich-spirituellem Empfinden zugeschrieben werden.

Ein Beispiel aus dem Kanton Bern ist die Kirche Einigen am Thunersee, wo Mauerreste belegen, dass vor 1300 Jahren an derselben Stelle bereits eine Urkirche erbaut worden war. Aber nicht nur Einigen war von den Kelten als Kraftort erkannt worden. Es stehen rund um den Thunersee elf weitere Kirchen mit einer über tausendjährigen Geschichte, die mit Einigen verbunden waren. Welcher Art diese Verbindung war, ist allerdings nicht bekannt.

Pier Hänni, Naturmystiker und Wanderführer, beschreibt in seinem Buch «Magisches Bernbiet », wie er solche Orte erwandert. Eine dieser Wanderungen führt ihn auch auf den Gurten, den «heiligen Berg von Bern». Bereits vor Jahrtausenden hätten dort Menschen gesiedelt und für die Kelten, die entlang der Aare gewohnt hätten, sei er womöglich der lokale Götterberg gewesen, auf dem kultische Feiern abgehalten und Gottheiten verehrt wurden, vermutet Hänni. Er spannt den Bogen in die Neuzeit, indem er schreibt, dass die buntgekleideten Menschen, die jedes Jahr am Gurtenfestival «wie in Ekstase versunken unter dem Sternenhimmel tanzten», eigentlich nichts anderes tun würden, als diese Tradition fortzusetzen. An einem magischen Ort, so Hänni, würden vielfältige und vielschichtige Kräfte miteinander verwoben wirken.

Letztlich zeigt das breite, von Religiosität unabhängige Interesse an der Kraftort-Idee, dass viele Menschen die Sehnsucht und Hoffnung in sich tragen, dass es genauso sein möge: dass alles einen Sinn und Zusammenhang habe und unser Inneres mit den Kräften der Natur verbindbar sei. Und dass sie genügend Gespür mitbrächten, diese Kräfte zu finden und zu erfahren. Ein Interesse, das in einer Zeit, der eine weitreichende Naturentfremdung attestiert wird, von einer Bedeutung ist, die über das Esoterische hinausgeht.

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