Emmanuel Siess und Filmemacherin Claudia Marschal in Locarno, wo die Dokumentation «La Déposition» Weltpremiere hatte. Foto: Locarno Film Festival

La Déposition gewinnt in Locarno: «Gerechtigkeit bedeutet, dass die Opfer angehört werden»

Der bewegende Film über einen Missbrauchsfall gewinnt den ­Spezialpreis der «Semaine de la Critique»

Ein bewegender Film über einen Missbrauchsfall gewann in Locarno den ­Spezialpreis der «Semaine de la Critique». Weil der Täter noch immer als ­Priester arbeitet, bricht sein Opfer nach 30 Jahren sein Schweigen.

Reto Moser

Der französische Dokumentarfilm «La déposition» beginnt mit Emmanuel Siess, der eine Tonaufnahme seines Vaters anhört. Der Vater erzählt von einem Gespräch mit dem früheren Ortspfarrer. Von ihm wollte er wissen, was genau an dem Tag vor bald drei Jahrzehnten geschah, als sein 13-jähriger Sohn bei dem Pfarrer Schutz vor dem Regen suchte. Der Priester sagt, er habe dem Jungen die nassen Kleider ausgezogen und ihn im Bett gewärmt. Sonst sei nichts passiert.

Emmanuel, heute 40, ist traumatisiert, seine Erinnerungen sind lückenhaft. Aber er weiss, dass Pfarrer Hubert ihn sexuell missbraucht hat und dass er selbst danach verstört aus dem Pfarrhaus rannte. Der Vater – ein tief gläubiger Katholik – reagiert ambivalent. Er will seinem Sohn glauben und kann sich doch nicht vorstellen, dass der Pfarrer so etwas tun könnte. Das verletzt Emmanuel.


Ein Brief als Auslöser

Kurz nachdem der Vater den Geistlichen konfrontierte, erhält Emmanuel eine Brief des Priesters, der ihn zu einem Gespräch einlädt. Das öffnet viele Wunden. «Dieser Brief war der Aus­löser», sagt Regisseurin Claudia Marschal im Gespräch mit dem «pfarrblatt». Marschal ist die Cousine von Emmanuel Siess und plante schon länger einen Film über ihn. Ursprünglich stand nicht der Missbrauch, sondern die bevorstehende Taufe von Emmanuel in einer Freikirche im Fokus.

«Ich wollte verstehen, wie er seinen Glauben mit dem, was ihm passiert ist, in Einklang bringen kann», so die Filmemacherin. Das Eintreffen des Briefs stellt dann nicht nur Emmanuels Leben auf den Kopf, sondern ändert auch die Gewichtung der Dokumentation. «Als der erste Zorn verflogen war, wollte ich darüber sprechen», sagt Emmanuel Siess beim Treffen in Locarno.

Neben dem Missbrauchstäter wohnen

Bereits kurz nach dem Übergriff hatte sich Emmanuel seinen Eltern anvertraut. Weil der damals 13-Jährige sich vor den Reaktionen im Dorf fürchtete, wollte er nicht zur Polizei gehen. So hütete die Familie jahrzehntelang das Geheimnis  – und Emmanuel lebte weiterhin Tür an Tür mit seinem Peiniger, weil das Elternhaus unmittelbar neben der Kirche stand. «Ich bin nicht mehr zur Messe gegangen und habe auch meine Firmung verweigert. Irgendwann wurde der Pfarrer in eine andere Gemeinde versetzt», erzählt er.

Auf die Frage, welche Reaktion er sich damals von seinen Eltern erhofft habe, sagt Emmanuel Siess: «Ich wünschte, sie hätten sich mit mir hingesetzt und mir bestätigt, dass das, was geschehen ist, nicht richtig war. Und sie hätten mir gesagt, dass wir etwas dagegen tun müssen. Um mich zu schützen, aber auch andere mögliche Opfer.»

Viele Jahre später wird Emmanuel Siess gehört. Erst von der Polizei, dann vom Strassburger Erzbischof Luc Ravel. Ravel empfängt ihn 2021 persönlich, ermutigt Emmanuel zu einer Anzeige und meldet den Fall den vatikanischen Behörden. Dort reagiert man anders als erhofft: Ravel wird unter Druck gesetzt und muss 2023 zurücktreten. Ravels kompromissloser Kampf gegen Missbrauch hatte in konservativen Kreisen lange für rote Köpfe gesorgt.


Niederschmetternde Zahlen

«La déposition» feierte in Locarno Weltpremiere. Die Dokumentation gewann in der Sektion «Semaine de la Critique» den mit 2000 Franken dotierten Marco Zucchi Award. Das freut die Regisseurin und den Protagonisten. Doch beide wissen noch nicht, wie der Film in ihrem Heimatland Frankreich aufgenommen wird, wo er Ende Oktober in die Kinos kommt.

Seit 1950 sollen – laut der Untersuchung einer unabhängigen Kommission – in der römisch-katholischen Kirche Frankreichs 216 000 Kinder missbraucht worden sein. Die Dunkelziffer liegt aber, wie in der Schweiz, mutmasslich viel höher.

Als Massnahme nach der Untersuchung hat Frankreich einen Priesterausweis mit QR-Code eingeführt, gekoppelt an ein landesweites Register. Das soll für Pfarrgemeinden eine schnelle Überprüfung von Geistlichen gewährleisten, um der bislang gängigen innerkirchlichen Versetzungsmethode entgegenzuwirken.

Regisseurin Marschal weiss nicht, ob das ausreicht. «Es gibt in der katholischen Kirche zwei Richtungen. Die von Ravel, die fordert, über die Fälle zu sprechen, das Geschehene anzuerkennen und Wiedergutmachung zu leisten. Und es gibt die Tendenz, zu schweigen und einfach weiterzumachen.»

Die Dokumentation ist auch rechtlich brisant. Der Fall wurde als verjährt abgeschlossen, weil eine Vergewaltigung nicht nachgewiesen werden konnte.  Der verantwortliche Priester und spätere Generalvikar ist bis heute in der Diözese Strassburg tätig. Er könnte möglicherweise klagen.

Aufarbeitung als ständiger Prozess

Ob es weitere Opfer gibt, weiss Marschal nicht. Sie hofft aber, dass diese eventuell durch die Dokumentation ermutigt werden, sich zu melden. «Ein Film kann die Justiz nicht ersetzen. Doch ich glaube nach wie vor fest an die Gerechtigkeit. Deshalb sollen die Opfer angehört werden, um einen gesellschaftlichen Wandel zu bewirken.» Sie wünsche sich, dass der Film auch eine Diskussion über die Verjährungsfrist in Frankreich anregt.

Emmanuel Siess ist indes wichtig, dass ihn seine Erfahrung nicht seinen Glauben an Gott gekostet hat. Heute lebt er immer noch in seinem elsässischen Heimatdorf, zusammen mit seinem Vater und seiner Schwester. Die Aufarbeitung sei ein ständiger Prozess, sagt er. Auf den Brief des Pfarrers habe er nie geantwortet. Als Teil der Ermittlungen sei eine Konfrontation vorgesehen, doch ein erster Termin musste abgesagt werden.

Belastet es ihn nicht, nun mit dem Medienrummel um den Film sein Trauma immer und immer wieder zu durchleben? «Vielleicht wird es schwer, aber es ist notwendig. Wenn es nur einem Opfer hilft, aus dem Schatten zu treten, bin ich gerne bereit, mich hundert Mal zu wiederholen.»

 

Jurymitglied Charles Martig zum Film:
In der diesjährigen Jury der «Semaine de la Critique» in Locarno sass auch der «Verantwortliche Kommunikation» der Landeskirche Bern, Charles Martig. Er sagte über den Film, dass dieser «konsequent die Perspektive des Opfers einnimmt. Die Kamera schafft Nähe. Gleichzeitig ist die Tonspur der Einvernahme bei der Polizei sehr sachlich. Das gibt Raum für die Zuschauer:innen, sich vertieft mit dem Fall auseinanderzusetzen. Mir gefällt besonders die Darstellung der Vater-Sohn-Beziehung. Sie ist widersprüchlich, aber schlussendlich auch versöhnlich. Der Film zeigt, dass in der katholischen Kirche durchaus etwas in Bewegung gekommen ist.»

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