Seit acht Jahren leitet Nicolas Betticher die Berner Pfarrei Bruder Klaus, die dieser Tage 70 Jahre alt wird. Menschen zu erreichen sei ihm das Wichtigste. Dass Frauen von den Ämtern ausgeschlossen bleiben und Missbrauch vertuscht wird, befremdet ihn und seine Pfarrei.
Interview: Annalena Müller
«pfarrblatt»: Die Pfarrei Bruder Klaus feiert ihr 70-jähriges Bestehen. Wieso wurde 1954 im Südosten von Bern eine neue Pfarrei gegründet?
Nicolas Betticher: Damals kamen viele Katholik:innen nach Bern, unter anderem aus den Kantonen Freiburg und Wallis, wo es keine Arbeit gab. In den 1950ern gab es noch die Volkskirche, und alle gingen am Sonntag zum Gottesdienst. Also brauchte man neue Kirchen wie Bruder Klaus.
Was macht die Gemeinde heute, 70 Jahre später, aus?
Nicolas Betticher: Heute leben wir eine ganz andere, eine multikulturelle Realität. Allein in Bruder Klaus haben wir fünf Sprachgemeinschaften. Neben der deutschsprachigen sind das die philippinische, vietnamesische, polnische und die englischsprachige Community. Wobei Letztere aus 20 Nationalitäten besteht.
Am Sonntagmorgen haben wir einen Gottesdienst nach dem anderen. Da kann man sehen, wie die verschiedenen katholischen Traditionen miteinander leben. Die polnischen und afrikanischen Gemeinden sind eher konservativ, die Amerikaner:innen eher offen, und die Deutschsprachigen wollen gerne, dass alles korrekt und pünktlich abläuft (lacht).
Was ist Ihre schönste Aufgabe als Priester von Bruder Klaus?
Nicolas Betticher: Interviews zu geben.
Mit dieser Antwort habe ich nicht gerechnet …
Nicolas Betticher: Über die Medien kann ich viel mehr Menschen erreichen als hinter dem Altar. Und das ist die eigentliche Antwort auf Ihre Frage: Das Schönste ist, die Menschen zu erreichen und den Menschen zu sagen, dass Gott sie liebt. Das mitzuteilen ist unsere Aufgabe. Deshalb ist jedes Interview sehr wichtig.
Was ist Ihre schwierigste Aufgabe?
Nicolas Betticher: Dass Bruder Klaus heilig ist und seine Frau Dorothea Wyss nicht. Obwohl sie die treibende Kraft hinter ihm war. Und das steht sinnbildlich für die Realität in den Pfarreien und der Kirche als Ganzes. Frauen tragen die Kirche, aber sie bleiben von den Ämtern ausgeschlossen. Diese Realität befremdet mich zunehmend.
Das Bedürfnis nach Gott ist da – das spüre ich in meiner Arbeit jeden Tag
Im letzten Jahr machte die Kirche vor allem Negativschlagzeilen. Stichwort «Missbrauchskrise»: Ist das ein Thema in Ihrer Pfarrei?
Nicolas Betticher: Missbrauch war schon immer ein Thema. Und ja, Diskussionen haben wir hier natürlich auch. Jetzt heisst es, die Katholik:innen verlassen das sinkende Schiff, sie treten aus der Kirche aus. Damit müssen wir uns befassen – und die Ursachen bekämpfen. Diese Ursachen sind nicht Geiz und die Kirchensteuer, sondern der vielfach vertuschte Missbrauch, den man ohne Wenn und Aber aufarbeiten muss.
Sie waren letztes Jahr selbst medial präsent, als ein Brief von Ihnen an den Vatikan publik wurde, in dem Sie Mitgliedern der Schweizer Bischofskonferenz Vertuschung vorwerfen. Gab es Reaktionen aus der Pfarrei?
Nicolas Betticher: Das war eine spezielle Erfahrung. Nachdem der «SonntagsBlick» meinen Brief an den Heiligen Stuhl publiziert hatte, stand die Pfarrei auf einmal im Fokus. Das war nicht ganz einfach. Ich habe die Gläubigen also nach der Predigt gefragt: «Wollt ihr, dass ich weitermache?» Alle haben geklatscht. Das hat mich sehr beeindruckt.
Ich habe gespürt, dass die Menschen in Bruder Klaus wissen, was zu tun ist. Dazu gehört, dass man zu Fehlern stehen muss, um aus ihnen zu lernen. Ich habe 2001 miterlebt, wie man Fehler machen kann. Ich war Kanzler von Bischof Genoud und habe gesehen, wie der damalige Generalvikar einem mutmasslichen Missbrauchstäter mehr glaubte als dem Opfer. Es war damals leider so üblich. Aber gerade, weil wir damals Fehler machten, müssen wir heute gegen Vertuschung aufstehen.
Nicht alle haben Sie für diesen Schritt gelobt. Sie haben Morddrohungen erhalten…
Nicolas Betticher: Ja, die gab es. Sie kamen vor allem zu mir nach Hause, waren auf Französisch und nicht aus der Pfarrei. Ich wurde als Nestbeschmutzer beschimpft, es gab Drohmails, Schmierereien und sogar einen Sarg vor meiner Tür. Das war nicht schön, aber es gehört dazu. Es macht mir keine Angst.
In der Folge der Veröffentlichung Ihres Briefes hat der Vatikan eine sogenannte Voruntersuchung der Vorfälle in Auftrag gegeben. Der Churer Bischof Joseph Maria Bonnemain hat sie geführt und die Ergebnisse diesen Februar an den Vatikan gesandt. Seither hat man nichts mehr gehört.Wissen Sie mehr?
Nicolas Betticher: Ich weiss überhaupt nichts.
Sie gelten als Verfechter von Strukturreformen in Sachen Missbrauch und Partizipation in der Kirche. Welche Rolle spielen diese Themen an der Basis?
Nicolas Betticher: Als ich vor acht Jahren hier anfing, haben wir als erstes eine Synode gemacht, um uns kennenzulernen. Das war eine wunderbare Erfahrung: Aus der Partizipation von Frauen, Männern, Laien und Geweihten entstand der Pfarreirat, das höchste Gremium in Bruder Klaus. Dieses hat in der Folge immer wieder die Missbrauchsfrage aufgeworfen. Als Basis tragen wir mit Prävention und Auseinandersetzung zu Veränderungen bei. Im Kleinen, ganz bescheiden, in der Pfarrei. Das macht mich sehr glücklich.
Die Pfarrei Bruder Klaus begeht ihren 70. Geburtstag im Zeichen der Kirchenkrise. Wo sehen Sie die Pfarrei in 70 Jahren?
Nicolas Betticher: Keine Ahnung. Aber wir werden es nur schaffen, wenn wir Synergien bilden. Wir haben kaum noch Theolog:innen, Katechet:innen oder Priester. Es fehlen die Menschen hinter und vor dem Altar. Dennoch muss jede der 15 Pfarreien im Pastoralraum Region Bern Hochzeiten, Beerdigungen, Katechese etc. organisieren.
Es wäre sinnvoll, hier zusammenzuhalten und Räume zu schaffen für Angebote. Das Bedürfnis nach Gott ist da – das spüre ich in meiner Arbeit jeden Tag. Es ist an uns, die Menschen zu erreichen und die Kapazitäten dafür zu schaffen.
Die Pfarrei Bruder Klaus lädt zum Jubiliäumsfest ein
30. August, 20.30: Jubiläumskonzert – Oper «Nabucco» (Apéro ab 20.00)
1. September, 10.00: Hochamt mit Bischof Felix Gmür und allen Sprachgemeinschaften. Im Anschluss: Steh-Apéro riche