Nicolas Betticher zu Macht, Missbrauch und Verantwortung

Auszüge aus dem Buch des Pfarreileiters von Bruder Klaus

Nicolas Betticher, Priester und Leiter der Pfarrei Bruder Klaus in Bern, hat ein Buch zu Macht, Missbrauch und Verantwortung in der katholischen Kirche veröffentlicht. Der Autor versteht es als Beitrag dazu, dass die Kirche ihre Glaubwürdigkeit wiedererlangt.

Zusammenstellung: Sylvia Stam

«Trotz allem – Macht, Missbrauch Verantwortung in der katholischen Kirche» lautet das Buch von Nicolas Betticher, der Untertitel bezeichnet es als «Selbstreflexion eines Priesters». Das Buch ist als fiktives Interview konzipiert und thematisiert auf der Basis von 33 Jahren Tätigkeit im kirchlichen Dienst aktuelle Themen wie Macht, Missbrauch, Gewaltenteilung, Klerikalismus und Synodalität. Betticher will damit einen  Beitrag zur Debatte in der Kirche leisten und dadurch deren Glaubwürdigkeit fördern, schreibt er im Vorwort. Das «pfarrblatt» dokumentiert Auszüge daraus im Wortlaut.  

Priester

«Wir Priester wirken oft hermetisch und verschlossen. Weil wir in eine Rolle gedrängt werden, die wir gar nicht in der Fülle des Ideals Leben können. Der Priester soll der Inbegriff des Beispielhaften, der Moralität, der Reinheit sein. Durch die Weihe werde ich zum «Heiligen». Ich sollte es jedenfalls. Aber zugleich bleibe ich Mensch, im Werden, unfertig, auf der Suche. Ich muss perfekt sein, ein heiliges Ideal verkörpern. Der Mensch und der Priester in mir können somit in eine Zwickmühle geraten. Folge ich dem einen, verrate ich den andern. Schwierig, immer beiden gerecht zu werden» (S. 38).

«In 20 Jahren als Berufslaie in der Kirche haben wir unter Laien häufig darüber gesprochen, worunter wir litten. Seit ich Priester bin viel weniger. Warum? Wenn ein Mitbruder mir anvertraut, dass die Verantwortung ihn erdrückt, dass er ihr nicht gewachsen ist, weil er kein Übermensch ist, hat er Angst, dass jemand dies dem Bischof sagen könnte und er dann in einem falschen Licht dastehen würde. Es gibt Bischöfe, die Priester abschieben, wenn sie Probleme haben. Spricht man nämlich über die Probleme, muss man irgendwann Lösungen suchen» (S. 43).

Missbrauch

Betticher schlägt bei Verdacht auf Missbrauch die Einrichtung eines unabhängigen Diözesangerichts vor: «Das erste ist, die Opfer anzuhören, sie sorgfältig zu empfangen. Das kann durch eine Kommission geschehen. Als zweiter Schritt wird der Priester zu einem Gespräch eingeladen und mit den Vorwürfen konfrontiert. Dies in Anwesenheit eines von ihm gewählten Beistands. Drittens: Weitergabe an die Staatsanwaltschaft. Viertens, falls sich der Verdacht erhärtet: Untersuchung des Falles durch das unabhängige diözesane Gericht. Gegen ein allfälliges Urteil kann der Angeklagte Rekurs einlegen – zunächst auf nationaler, dann auf weltkirchlicher Ebene, aber nicht beim Bischof.» (…)

«Kommissionen, die aufklären, sind wichtig und arbeiten auch sehr professionell. Wichtig ist aber, was nach der Aufklärung passiert. Wenn man die Fehler einsieht, muss man auch konsequent handeln. Und da braucht es eben Gerichte, die unabhängig von den Bischöfen entscheiden können – mit eigenen Rekursinstanzen. Urteile würden ebenfalls von diesen Instanzen gefällt und dann auch von den Bischöfen als Arbeitgeber der Priester umgesetzt. Diese Gerichte wären dann auch eine Art Kontrollinstanz oder Aufsichtsbehörde. Sie könnten demzufolge intervenieren, wenn Bischöfe die Urteile nicht umsetzen würden» (S. 62f).

Duales System

«Ich habe während den vergangenen 35 Jahren Dienst an der Kirche in der Schweiz nie gravierende Probleme mit dem Dualsystem festgestellt. Es ist einfach wichtig, mit allen im Dialog zu sein und auch zu akzeptieren, dass die Priester und Laientheologen nicht alles machen müssen und können. Es gilt hier ein sehr interessantes Subsidiaritätsprinzip. Von der Pfarrei bis hinauf zur Bischofskonferenz. (…)

In diesem Sinne kann die Schweiz ein Beispiel für viele andere Ortskirchen weltweit sein. Kardinal Rauber, ehemaliger Nuntius der Schweiz, hatte dies sehr wohl verstanden. (…) Er sagte, dass er von einer Weltkirche träume, die der Kirche in der Schweiz ähnlich sei. Eine Kirche, in der Geweihte und Laien viel Verantwortung übernehmen würden. Wichtig ist das Zusammenwirken aller Player. Jeder gemäss seiner Verantwortung» (S. 64).

Bischofswahl

«Eine Bischofswahl müsste viel besser vorbereitet werden. Meistens sind es nur interne Vernehmlassungen, die gemacht werden. Niemand weiss, wer, wann und wie konsultiert wurde. Alles ist unter päpstlichem Geheimnis. (…)

Eine breite Konsultation mit klaren Positionierungen könnte dazu beitragen, dass man das richtige Bischofsprofil für ein Bistum beschreiben würde. Was braucht das Bistum für einen Hirten angesichts der Realität der Kirche vor Ort?

Eine Ernennung zum Bischof durch das Volk, wie damals in Mailand mit dem Heiligen Ambros, wäre heute nicht der beste Weg. Aber eine viel breitere und durchsichtigere Art der Vernehmlassung wäre hier von Vorteil für alle» (S. 66f).

Macht

«Wenn spirituelle und menschliche Macht vermischt werden, kann es sehr gefährlich werden. Man kann dann plötzlich das Gefühl haben, der liebe Gott sei mit allem einverstanden. Es ist letztlich die Identifikation des Priesters mit Gott. Und da ist die Selbstreflexion, ja die spirituelle Begleitung, unabdingbar» (S. 73).

«Ganz allgemein gilt: Fruchtbar ist Macht, wenn sie mit anderen geteilt wird. Furchtbar ist Macht, wenn einer sie ganz allein übernimmt. So etwas ist nie gut. Der einzige Ausweg ist das Teilen von Macht: Ein Team von Frauen und Männern, das gemeinsam bestimmt. (…) Wie soll denn Gott zu mir sprechen, wenn er etwas zu kritisieren hat, wenn ich auf die Mitmenschen nicht höre? Das ist mein Credo. Sieben Köpfe denken besser als ein Kopf» (S. 74).

Sakralisierung des Priesters

«In der Kirche trifft man auf Männerseilschaften – auf allen Ebenen. Wenn Frauen in Kaderpositionen kämen, würde das viel weniger funktionieren. Ihre Art würde das System der Seilschaften sprengen. Franziskus trifft genau den Punkt, wenn er fordert, Frauen in Führungsverantwortung zu nehmen. Das würde uns helfen. Wie man das genau machen soll, wissen wir leider noch nicht so recht.» (…)

«Sie (die Sakralisierung des Priesters) öffnet einen Abgrund, einen Unterschied. Du, Laie, bist ja nicht geweiht! Du gehörst nicht wirklich zur Sphäre des Heiligen. Du gehörst nur passiv dazu. Dein Wort gilt weniger. Als ich 2008 Generalvikar wurde, nahm manch einer Anstoss. Gerade ein Jahr nach der Priesterweihe. Er hat noch nicht zur Genüge das Priesteramt gelebt! Die vorausgehenden zwanzig Jahre im kirchlichen Dienst galten nichts. Es waren ja bloss Laienjahre!

Wie wird in Rom ein Laie empfangen – und wie ein Mann, der den Priesterkragen trägt? Es beginnt schon an der Pforte. Der Schweizergardist grüsst in Position nur Priester. So werden sie geschult. Priester warten auf einem Stuhl mit Lehne. Laien auf einem Hocker – anderthalb Meter nach hinten versetzt» (S. 84).

Jugend

«Die Jugend sehnt sich nach Inhalten, aber sie verstehen die Inhalte, die wir ihnen bieten, oft nicht. Die Jungen reagieren nur auf das, was sie selbst erleben, selbst erfahren. Wer die Liebe nicht erfahren hat, versteht das Wort Liebe nicht. Das ist eigentlich nichts Neues. Neu hingegen ist, wie sehr die jungen Leute überschwemmt sind vom Vergänglichen, vom Vielen, vom Zwang immer weiterer Steigerung. (…) Es fällt Jungen schwer, den Funken in ihnen, das Unvergängliche, Gott selbst zu spüren. Sie verstehen schon das Wort Gott nicht mehr wirklich. Was heisst dann für sie Liebe Gottes?» (S. 85)

Synodale Pfarrei

«Das Mitwirken von Laien, Frauen, Männern und Geweihten schenkt der Pfarrei ein Plus an Dynamik – aber auch an Gleichgewichtsförderung. (…) Insbesondere aber ist auch die Vernetzung mit den Nachbarpfarreien wichtig. (…) Ich denke zum Beispiel an Kompetenzorte, die subsidiär wirken. Tauf- und Ehevorbereitung müssen nicht unbedingt in allen Pfarreien durchgeführt werden. (…) Oder Pfarreien spezialisieren sich für bestimmte pastorale Dienst: Jugend-, Familien-, Senioren- oder Migrantenpastoral. (…) Die Menschen sind ja eh schon sehr mobil und suchen sich selber die Angebote und Pfarreien, die ihnen zusagen. Wir müssen diese Realität ernst nehmen.» (S. 100)

Dienste und Ämter

«Warum könnten wir uns nicht nebst der Ernennung zu einem kirchlichen Dienst auch eine Sendung, eine Art Weihe vorstellen? Dies geschieht ja schon in den einzelnen Bistümern. Und damit kommen wir zurück auf das, was Mittelalter und Urchristentum schon kannten: Geweiht zum Dienst an der Caritas, zum Dienst der Katechese, der Krankenpflege, der Leitung einer Pfarrei, der Administration der Güter und so weiter. Die Entflechtung der Ämter wäre eine Folge dieser Vorstellung. Die Weihe geht mit dem Charisma der Person für ein bestimmtes Amt Hand in Hand» (S. 100f).

Glaubwürdigkeit

«Zuerst müssen wir uns grundsätzlich die Frage stellen, wie wir die Strukturen der Kirche so anpassen, dass die Kirche wieder glaubwürdiger wird. Insbesondere im Bereich der Gewaltenteilung, der Verantwortung von geweihten und nicht geweihten Christen, das Mitwirken von Laien, Männern und besonders Frauen» (S. 110).

 

Nicolas Betticher (*1961) studierte Theologie und Kirchenrecht in Freiburg, Strassburg und Rom. Seine erste Anstellung führte ihn in das bischöfliche Offizialat (Diözesangericht) in Freiburg. Danach wirkte er als Adjunkt des Bischofsvikars im Französisch sprechenden Teil des Kantons Freiburg. Von 1995 bis 2000 war er Sprecher der Schweizer Bischofskonferenz. Danach war er ein halbes Jahr Mitarbeiter von CVP-Bundesrätin Ruth Metzler. Im Juli 2001 wurde der Laientheologe Kanzler des Bistums Lausanne, Genf und Freiburg. 2007 wurde er zum Priester geweiht und Offizial (Vorsteher des kirchlichen Gerichts des Bistums). 2009 machte ihn Bischof Bernard Genoud zu seinem Generalvikar. Nach Genouds Tod wurde Betticher 2011 von dessen Nachfolger Charles Morerod nicht als Generalvikar übernommen. Er war als Sekretär in der Nuntiatur in Bern sowie als Priester im Pastoralraum Bern tätig. Seit 2015 ist er Pfarrer und Pfarreileiter von Bruder Klaus in Bern. Seit Ende 2020 ist Betticher im Bistum Basel inkardiniert. (kath.ch/sys)

Nicolas Betticher:<link https: www.herausgeber.ch product-page trotz-allem external link in new> trotz allem. Macht, Missbrauch, Verantwortung in der katholischen Kirche. Selbstreflexion eines Priesters.  Kulturbuchverlag Herausgeber, 2021, ISBN 978-3-905939-77-4

Das Buch entstand mit finanzieller Unterstützung der Pfarrei Bruder Klaus und der Römisch-Katholischen Gesamtkirchgemeinde Bern.

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