Andreas Neugebauer (*1964) wurde als Kind auf einem Berner Bauernhof verdingt. Später machte er Karriere bei der Post. Nun hat er seine Biografie geschrieben, die anderen Mut machen soll.
Interview: Sylvia Stam
«pfarrblatt»: Sie kamen 1975 mit 11 Jahren als Verdingkind auf einen Bauernhof im Oberaargau. Sieben Jahre lang erlebten Sie dort physische und psychische Gewalt. Über das Erlebte schwiegen Sie 40 Jahre lang. Warum so lange?
Andreas Neugebauer: Mit 17 versuchte ich erstmals zu erzählen, was mir widerfahren ist. Der Vormund glaubte mir nicht. Fünf Jahre später habe ich nochmals einen Anlauf genommen und musste feststellen, dass viele Leute das nicht ertragen. Also erzählte ich meine Geschichte lieber nicht mehr. Zum anderen hatte ich das Erlebte selber noch nicht verarbeitet, sondern lange verdrängt.
Was war der Auslöser, es schliesslich doch zu erzählen?
Es gibt keinen auslösenden Moment. Es war irgendwann «Zeit zu schreiben». Darum trägt das Buch diesen Untertitel. Ich wusste immer: Wenn ich meine Geschichte einmal öffentlich mache, dann nicht als Drohgebärde, sondern als Mensch, der dank dieser Geschichte auch gereift ist. Ich bin im Nachhinein dankbar, wenn ich damit etwas bewegen kann. Wenn ich auch nur einen einzigen Menschen von der Strasse wegbringe, sodass er oder sie wieder Mut findet, dann hat sich der Aufwand gelohnt.
Wenn Sie den Bauern oder die Bäuerin von damals heute treffen würden, was würden Sie ihnen sagen?
Ich würde ihnen die Hand reichen und ihnen symbolisch das Buch übergeben, ein Teil meines Lebens. Und ich würde ein einziges Wort sagen: «Schade». Nicht für mich, sondern für sie.
Inwiefern?
Schade, dass sie ihr Leben nicht meistern konnten. Ich weiss inzwischen mehr von ihrer Geschichte als damals. Nach 45 Jahren habe ich mit allen Kindern, die zur selben Zeit wie ich bei dieser Familie verdingt waren, Kontakt aufgenommen. Einige Mädchen haben mir erzählt, dass sie mehrfach vom Bauern sexuell belästigt worden seien. Die Bäuerin schwieg dazu, und er schwieg im Gegenzug, wenn sie ihre Wut an uns ausliess. Dieser Zusammenhang erklärt, warum dort vieles totgeschwiegen wurde.
Und gegen dieses Schweigen schreiben Sie?
Ja, wenn ich etwas anprangere, ist es das Schweigen. Wir müssen lernen, hinzuschauen. Denn Schweigen ist brutal für das Kind oder die betroffene Person. Schweigen heisst: «Es interessiert mich nicht.»
Gab es in Ihrer Zeit als Verdingkind auch Freudemomente?
Ja, ich konnte mir mit der Zeit Schafe anschaffen. Sie waren auch für den Bauern von Nutzen, weil der Springplatz für die Pferde dadurch gemäht war. Ich ging jeden Tag zu meinen Schafen. Sie waren meine Geschwister, meine Familie, vermutlich sogar mehr. Bei ihnen erfuhr ich Nähe, Geborgenheit, Liebe.
Wie war es in der Schule?
Ich ging sehr gerne zur Schule, weil ich da nicht arbeiten musste. Ich war italienischer Secondo, ein Exot im positiven Sinne. Ich wurde nie gehänselt, war immer akzeptiert. Mir wurde es in die Wiege gelegt, fröhlich und mit Humor auf Menschen zuzugehen. Das hat mich ein Leben lang begleitet und vermutlich auch gerettet.
Welche Rolle spielte der Lehrer, der im Buch ein Kapitel beisteuert?
Er war für mich eine Vertrauensperson, obschon ich ihm nie ein Wort gesagt habe von dem, was ich damals erlebte. Wenn du so geplagt wirst und verängstigt bist, reicht schon das Gefühl, jemandem vertrauen zu können. Ich habe ihn 45 Jahre später angerufen und gefragt: «Würdest du mein Buch Korrektur lesen und deine Sicht dazu einbringen?» Zu diesem historischen Teil wollte ich eine Aussensicht haben. Der Lehrer hat das Manuskript noch gelesen, inzwischen ist er gestorben.
Sie erlebten nach Ihrer Flucht eine Zeit, in der Sie über die Stränge hauten und abstürzten. Dennoch kamen Sie wieder auf die Beine und machten schliesslich Karriere bei der Post. Woher nahmen Sie die Motivation dranzubleiben?
Zum einen hatte ich einen Schutzengel: Meinen Bruder Manfred. Nach seiner Zeit als Verdingkind nahm er harte Drogen, daran ist er gestorben. Dieses Beispiel war für mich eine Grenze. Ich habe nie harte Drogen genommen. Auch ich hatte das Bedürfnis, vieles zu betäuben, doch die weichen Drogen haben für mich ausgereicht.
Die Kraft rauszukommen, bekam ich durch den Verlust vieler Freund:innen; Verdingkinder, die es nicht geschafft hatten. Und durch meine Freund:innen, zu denen ich noch heute gehen kann. Mir war es wichtig, ihnen danke sagen zu können. Darum wollte ich es unbedingt schaffen, wollte ihnen mit diesem Buch etwas zurückgeben. Geholfen hat mir nicht zuletzt auch mein Naturell: Der eine gibt auf, der andere sucht noch einen Weg.
Es gab immer wieder Menschen, nebst dem Lehrer auch Vorgesetzte, die an Sie glaubten. Warum tun Menschen das?
Das hat wohl damit zu tun, dass ich immer ehrlich war. Wenn du jemandem die Hand gibst und klar sagst, dass du Schulden hast oder kein Zuhause, dann gehen vielleicht einige Türen zu. Aber andere bleiben offen. Das ist das Wertvolle. «Suche solange, bis dir jemand die Tür öffnet.» Das ist meine Botschaft. Aber man muss ehrlich sein.
An wen richtet sich Ihre Botschaft?
An Menschen mit einer Geschichte, die noch nicht aufgearbeitet ist. Menschen mit Fluchterfahrung. Alle Leute, die einsam oder verlassen sind, nicht verstanden werden, keine Wärme, keine Liebe kennen. Ich möchte jene Leute erreichen, die keinen Ausweg mehr sehen.
Wie lautet Ihre Botschaft, auf den Punkt gebracht?
«Glaube daran, dass du fähig bist, etwas zu bewegen und dich aus dem Schlamassel rauszuziehen. Was dich einst beelendet hat, kann zu einer wertvollen Erfahrung werden.» Ich wäre nie der gute Chef gewesen, wenn ich nicht durch meinen Werdegang so viel Sozialkompetenz erworben hätte. Man reift auf diese Weise so viel mehr als andere. Dazu braucht es die Würde, offen und ehrlich dazu stehen. Denn niemand braucht sich für seine Geschichte zu schämen.
Buchhinweis:
Andreas Neugebauer: Aufrechtgehen. Es ist Zeit zu schreiben.
Informationen und Bestellung unter aufrechtgehen.ch. Der Autor hält auch Lesungen in Schulen, Firmen oder Pfarreien.
Ein dunkles Stück Geschichte
Bis zu Beginn der 1980er Jahre verfügte die Schweiz fürsorgerische Zwangsmassnahmen gegen Menschen, ohne dass diese von einem Gericht verurteilt worden wären. Kinder aus wirtschaftlich schwierigen Verhältnissen wurden ihren Eltern weggenommen und als «Verdingkinder» fremdplatziert, im landwirtschaftlich geprägten Kanton Bern oftmals auf Bauernhöfe. Rund 2000 Betroffene leben heute noch im Kanton Bern, Zehntausende sind bereits gestorben.
Nun setzt der Kanton Bern «Zeichen der Erinnerung» an dieses Unrecht: Erinnerungstafeln, eine Plakatausstellung mit Biografien Betroffener, Unterrichtsmaterialien und eine Website zeugen von diesem dunklen Kapitel in der Berner Geschichte. Regierungspräsidentin Christine Häsler wird das Berner «Zeichen der Erinnerung» am 25. Mai um 17 Uhr im Schlosshof Köniz offiziell lancieren.
Rolle der Kirchen
Die reformierte Kirche Bern war über ihre Amtsträger:innen in die Fremdplatzierungen involviert. Die katholische Kirche im Kanton Bern war lange Zeit sehr klein und ihr Verhältnis zum Kanton eine andere. Darum kann davon ausgegangen werden, dass ihre Amtsträger im Verdingwesen keine Rolle gespielt haben. Untersuchungen dazu gibt es keine.