Fulbert Steffensky. Foto: zVg

«Niemand fällt in eisige Abgründe»

Interview mit Fulbert Steffensky über Gott, Spiritualität und seine Art, die Bibel zu lesen

Fulbert Steffensky verliess sein Benediktinerkloster, konvertierte und heiratete Dorothee Sölle. Er liest die Bibel erwartungslos, spricht von Schwarzbrot-Spiritualität und möchte den Charme des Buches der Hoffnung an seine Enkel weitergeben.

Von Wolf Südbeck-Baur*

Heute lesen Sie die Bibel erwartungslos, wie Sie in einem Interview gesagt haben. Das heisst, Sie lassen die Tür einen Spalt breit offen für einen Geistesblitz, für einen Lichtblick der Erkenntnis, für einen mystischen. Was sind Ihre Erfahrungen mit der erwartungslosen Bibellektüre?

Fulbert Steffensky: Die Bibel ist mein liebstes Buch. Ich lese sie erwartungslos, das heisst, nicht mehr mit dogmatischen Augen, die meinen, die Wahrheit entzifferbar in den biblischen Texten finden zu können. Ich lese die Bibel wie ein Buch reicher Hoffnung. Liest man sie nicht mehr mit vorgeformtem Blick, kommen plötzlich ganz andere Sachen zum Vorschein. Die Richtigkeit interessiert mich zum Beispiel nicht mehr so sehr, sondern die Schönheit der Bibel. Ich glaube, das haben wir lange falsch gemacht. Man kann auf Dauer nur an etwas glauben, was man schön gefunden hat. Darum ist es mein Hauptanliegen, den Charme biblischer Geschichten zu entdecken. Was ist der Charme der Bergpredigt oder der Figur Jesu? Was ist der Charme seines Widerstands, der Charme des Hohen Lieds? Ich frage auch: Hilft ein biblischer Text der Würde der Menschen oder beschädigt er sie?

Manche werden einwenden, Sie veranthropologisieren die Lektüre der Bibel…

Das mach’ ich auch. Es ist kein vom Himmel gefallenes Buch, und ich kann nicht sagen wie die Katholiken: «Wort des lebendigen Gottes». In der Bibel, in die Geschichte der Väter und Mütter ist das Wort Gottes eingewickelt. Die Wahrheit fällt nicht einfach gebrauchsfertig vom Himmel. Es gehört zu unserer Würde, dass wir an der Entstehung der Wahrheit mitarbeiten, indem wir die Texte interpretieren. Interpretieren heisst, etwas von sich und seiner Zeit dazutun. Man gibt den Texten in der Gegenwart ihren Ort. Das ist eine schwierige Sache, es gibt viel Streit darüber. Aber wo kein Streit ist, ist auch die Wahrheit nicht auffindbar. Aber es ist auch schön, an der Wahrheitsfindung beteiligt zu sein, und sie nicht einfach nur zu übernehmen. Jede Generation ist eine neue Interpretin der Bibel. Sie muss sie übersetzen vom alten Ufer an das Ufer unserer Zeit. Und das ist auch ein Stück Verfälschung. Jede Predigt arbeitet an der Wahrheit und verfälscht, indem man sich selbst einbringt. Das muss so sein. Es kann nur etwas überzeugen, wenn man von sich selbst etwas dazu tut. Es kann nur eine Erzählung überzeugen, in die man etwas vom Glück und dem Leiden der Gegenwart legt. Das gilt auch für die Erzählungen der Bibel.

Jesus steht auf der Seite der Geschundenen, Randständigen und Ausgeschlossenen, der Verlierer der Globalisierung. Das ist auch Ihre Überzeugung. Was ist für Sie der Charme, die Schönheit der Bergpredigt?

Die Freiheit des Jesus der Bergpredigt ist charmant, sein unbekümmerter Widerstand ist charmant. Die Rede von der Vergebung ist kühn. Die Welt von unten zu lesen, von den Beleidigten, den Armen, den Verfolgten her, ist ein Plädoyer für unsere eigene Schönheit. Man sagt sich bei jedem Satz, so möchte ich leben. Charme meine ich also nicht nur in einem äusserlichen Sinn, sondern man kann es auch mit Würde übersetzen – die Beanspruchung dieser Würde ist ein Stück Schönheit.

Stichwort «Schwarzbrot-Spiritualität». Statt von Spiritualität reden Sie lieber von Sehnsucht nach Ganzheit und Heil und Sie sagen, «vielleicht ist alle Sehnsucht das vermummte Warten auf den Grund des Lebens». Wie sieht dieses vermummte Warten bei Ihnen aus?

Spiritualität ist ein undeutliches Wort geworden, aber vielleicht meinen Menschen damit dieses vermummte Warten, indem man sich selbst noch nicht gewiss ist, worauf man warten soll. Das vermummte Warten besteht auch darin, dass ich mir eine Herkunft gebe und mir erlaube, Sohn zu sein und nicht Autor meiner selbst. In diesem Sinn bin ich Sohn der Bibel, Sohn und Erbe der christlichen Traditionen. Je mehr ich mich als freier Mensch – das ist die Voraussetzung – darin einlese, bilden sie mein Gewissen und meine Lebensträume. Das ist das eine…

… und das andere?

Diese Form der spirituellen Erwartung ist aber Arbeit. Arbeit ist ein Begriff der Würde: Man ist nicht passiver Hinnehmer allen Geschehens. Religiöse Arbeit ist zum Beispiel, morgens ein Stück Bibel zu lesen, die Ordnung aufrecht zu erhalten, sich nicht seiner eigenen Beliebigkeit zu opfern, sonntags in den Gottesdienst zu gehen, obwohl mir keineswegs immer danach zumute ist. Ich erwarte dort keine Himmelserscheinungen. Diese sind unerheblich. Ich bin nicht auf religiöse Erfahrung aus. Gottesdienst, Bibellesen, Meditation sind eher Übung als Erfüllung, das heisst, sie sind Arbeit. Diese Art von Bildung bedeutet mehr Übung als Erfüllung, mehr Handwerk als geistliches Feuerwerk.

Sie sind bald 86 Jahre alt. Was ist für Sie noch wichtig im Leben?

Es ist mir wichtig, dass ich mich nicht besonders um mein Sterben, um meinen Tod kümmere. Es kommt von selbst, und das ist meine Freiheit, dass ich nicht dafür sorgen muss. Wichtig ist, dass ich andern nicht zur Last falle und ich mich selbst vergessen kann. Ich würde gerne meinen Enkeln etwas vermachen, nämlich die Lust und die Geduld am Bibellesen, die Lust und die Geduld, den Charme der Bibel zu entdecken, darüber zu staunen und zornig zu werden, was die Bibel auch lehrt. Es kommt, was kommt. Es steht nicht in meiner Hand, was nach dem Tod kommt. Meine Frau hat immer gewettert gegen das Weiterleben nach dem Tod und gesagt: Wenn ich sterbe, werde ich zu einer Träne im Ozean Gottes. Ein schönes, grosses Bild der Hoffnung. Ich möchte sagen, es fällt niemand in eisige Abgründe. Ich muss es sagen, weil ich die Opfer nicht aufgeben will, die Kinder, die im Mittelmeer ertrinken, die Frauen, die umkommen oder am Unrecht des Hungers gestorben sind. Ich kann einfach nicht zugeben, dass das alles ist, dass die Opfer Opfer bleiben. Ich beharre auf Sätzen, die ich nicht rechtfertigen kann, aber nicht aufhöre, sie zu sprechen: Wir fallen nicht aus der Hand Gottes, wir fallen nicht in eisige Tiefen, Gott wird uns das Lächeln zurückgeben, Gott wird unsere Tränen trocknen. Ohne diese Sätze möchte ich nicht auskommen, obwohl ich nicht weiss, was sie genau bedeuten und wo sie Wahrheit werden. Aber ich muss es ja auch nicht wissen.


Buchtipp
Fulbert Steffensky: Fragmente der Hoffnung.
Radius-Verlag 2019, 189 S., CHF 27.90.

 

*Zuerst erschienen im «aufbruch», unabhängige Zeitschrift für Religion und Gesellschaft 

 

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