Zwischenbilanz ein Jahr nach Publikation der Missbrauchstudie: Auf einem Podium in Zürich wurde deutlich, dass die katholische Kirche in der Schweiz Schritte vorwärts macht, aber noch weit entfernt ist von der nötigen Entschiedenheit.
Thomas Binotto, forum, Pfarrblatt Kanton Zürich
Das erste und das letzte Wort gehörte Vreni Peterer. Die Präsidentin der «Interessengemeinschaft für Missbrauchsbetroffene im kirchlichen Umfeld» (IG-M!kU) und selbst Betroffene brachte die Spannbreite des gesamten Abends eindringlich zum Ausdruck: Auf der einen Seite ihre leise Hoffnung, weil sie tatsächlich ermutigende Zeichen erlebt hat, beispielsweise aus Pfarreien, aber auch von der Katholischen Kirche im Kanton Zürich, doch gleichzeitig nach wie vor tiefes Misstrauen, dass die entscheidenden Schritte letztlich dann doch nicht gemacht werden, weil die Kirchenleitung sich immer noch allzu häufig in Konjunktive flüchtet.
Ein Jahr nach der Veröffentlichung der Pilotstudie zu sexuellem Missbrauch im Umfeld der römisch-katholischen Kirche hatten die «Paulus Akademie Zürich» und das «Forum – Pfarrblatt der katholischen Kirche im Kanton Zürich» zu einem Podium eingeladen, um eine Zwischenbilanz zu ziehen. Moderiert wurde der umsichtig strukturierte Abend von Veronika Bachmann und Veronika Jehle.
Stefan Loppacher, Leiter der nationalen Dienststelle «Missbrauch im kirchlichen Kontext», stellte im Auftrag der Schweizer Bischofskonferenz sechs bislang beschlossene Massnahmen vor. Von diesen sind allerdings erst zwei umgesetzt worden: Die Bischöfe haben sich verpflichtet – entgegen den Vorgaben des Kirchenrechts – Missbrauchsakten nicht mehr zu vernichten. Und sie haben zusammen mit der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz der Schweiz (RKZ) und den Ordensgemeinschaften (KOVOS) der Universität Zürich den Auftrag erteilt, die Geschichte des sexuellen Missbrauchs im Umfeld der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz seit Mitte des 20. Jahrhunderts zu erforschen. Die Resultate dieser Forschung sollen 2027 vorliegen.
Risiko eingehen, transparent kommunizieren, Farbe bekennen
Bei den anderen Massnahmen versprach Loppacher, dass man an der Umsetzung sei, ohne verbindliche Aussagen zur Realisierung machen zu können. Auch hier schwankte die Stimmungslage zwischen «es bewegt sich etwas» und «wir werden vertröstet». Besonders spannend waren deshalb die beiden Aussenblicke: Einmal von einem Kirchenrechtler aus Deutschland und einmal von einer Sozialwissenschaftlerin aus der Schweiz.
Der Theologe Peter Platen leitet im Bistum Limburg den Bereich Aufsicht und Recht. Er war massgeblich an der Umsetzung von nicht weniger als 64 Massnahmen im Bistum Limburg beteiligt. Mehrmals sprach Platen vom Risiko, dass Bischof und Bistum bewusst eingegangen seien. Zum Beispiel als Bischof Georg Bätzing 2020 bei der Entgegennahme des Expertenberichts versprach, dessen vorgeschlagenen Ziele umzusetzen – ohne den Bericht zuvor gelesen zu haben. Auch mit der transparenten Kommunikation während der Umsetzung habe sich das Bistum bewusst selbst unter Druck gesetzt. Bischof wie Bistum mussten nun liefern. Und sie mussten dafür sowohl finanziell wie personell Farbe bekennen. Insgesamt waren etwa 160 Personen aus allen Bereichen des Bistums an diesem Prozess beteiligt. Es wurde deutlich: Von dieser Entschiedenheit ist die römisch-katholische Kirche in der Schweiz allen Bemühungen zum Trotz noch weit entfernt.
Keine scharfe Polemik
Die Sozialwissenschaftlerin Lea Hollenstein, die an der ZHAW zu Organisationsentwicklung und Prävention forscht, betonte, dass ein Kulturwandel nicht allein durch die sechs versprochenen Massnahmen eintrete – obwohl deren Umsetzung dringend notwendig seien. Sie zeigte die Komplexität von Veränderungs- und Entwicklungsprozessen auf, die letztlich auf allen Ebenen und vom gesamten kirchlichen Personal mitgetragen werden müssen. Dabei machte sie unmissverständlich klar, dass diese Prozesse niemals abgeschlossen sein werden, sondern ständig neuer Anstrengungen bedürfen. Dazu gehöre auch die Kontrolle der Wirkung getroffener Massnahmen.
Es war kein Abend scharfer Polemik. In den meisten Punkten waren sich die Gäste auch diskussionslos einig. Zwei Dinge müsste man aber den Schweizer Bischöfen nach diesem Abend dennoch dringend mit auf den Weg geben. Erstens sollten sie sich endlich auf eine offene Kommunikation einigen, in der dann auch eine klare gemeinsame Haltung erkennbar wird. Und sie sollten sich zweitens ein Beispiel an den risikomutigen Limburgern nehmen, die sich wirksam selbst unter Druck setzen, weil nur das auf ehrliche Einsicht als Triebfeder hoffen lässt.