Kinderfreundliche. Judith Furrer bei den Spielgeräten im Falkenpark in Bern. Foto: Pia Neuenschwander

Religionsunterricht 2.0

Judith Furrer leitet die Fachstelle Religionspädagogik der katholischen Kirche des Kantons Bern. Ein Gespräch zum neuen Lehrplan für den konfessionellen Religionsunterricht.

Judith Furrer Villa ist Leiterin der Berner Fachstelle Religionspädagogik der katholischen Kirche. Zusammen mit dem Team der Fachstelle ist sie verantwortlich für die Einführung und Umsetzung des neuen Lehrplans für den konfessionellen Religionsunterricht und die Katechese der katholischen Kirche in der Deutschschweiz. Wie im Lehrplan 21 stehen auch hier die Kompetenzen im Vordergrund. Was das im Bereich Religion bedeuten könnte und wie der neue Religionsunterricht gestaltet wird, erklärt sie im Gespräch.

 

«pfarrblatt»: Wir haben eben mit Maria Himmelfahrt ein Hochfest gefeiert. Bedeutet Ihnen das etwas?

Judith Furrer: Für mich als Bernerin nicht wirklich. Wäre ich in Bayern oder im Wallis aufgewachsen, dann wäre das vielleicht anders. Das kann man jetzt als Kulturzerfall betrachten. Alles, was die Menschen nicht mehr wissen oder was nicht mehr eingesunken ist in eine konkret gelebte Kultur, ist ein Verlust.
Wenn in einem Gebiet wie Bern aber nur gewisse Dinge Kultur sind und andere nur am Rand oder gar nicht transportiert werden, dann ist das auch kein Verlust. Der Fokus sollte auf den Menschen von heute liegen, auf dem, was die Menschen durch das Leben trägt, was ihnen guttut. Heute geht es darum, was Kinder und Jugendliche für Anknüpfungspunkte haben. Was haben die religiösen Inhalte also mit ihrem Leben zu tun.

Katholische Würdenträger sprechen aber vom «religiösen Analphabetismus».

Es gibt in der Bildung immer Spannungsbögen, die man aushalten muss. Beispielsweise die Freiheit des Individuums kontra die Eingliederung in eine Gemeinschaft. Oder Tradition versus Aktualisierung. Man muss eine Wahl treffen. Habe ich mich entschieden, Tradition zu transportieren, dann kann ich jammern, es fällt bloss der Traditionsverlust auf, denn meine Erwartungen waren ganz andere.

Ich kann Bildung aber auch anknüpfen an die konkreten Fragen, die konkreten Lebenssituationen der Menschen hier und heute. Dann kann es sein, dass Tradition kaum vermittelt werden muss oder kann. Gerade der neue Lehrplan, der keine Aufzählung von Inhalten macht, die gelernt werden müssen, sondern Kompetenzen, Fähigkeiten oder Gebiete benennt, wo man religiös handlungsfähig werden muss, betont das.

Dann zeigt sich religiöse Bildung beispielsweise daran, ob ich meine Werte, meine Haltungen, meinen Glauben in einem interreligiösen Dialog auseinandersetzen, ins Spiel bringen, erklären kann. Natürlich werden Kompetenzen auch an konkreten Inhalten gelernt. Die Zeiten des reinen Auswendiglernens des Katechismus aber, diese Zeiten sind vorbei.

Kompetenzen, um darauf zurückzukommen, lassen sich also nicht im luftleeren Raum erproben ...

Das ist richtig. Im Religionsunterricht wird auch künftig an Inhalten gearbeitet. Allerdings weiss die Lerntheorie, dass bloss auswendig gelernte Inhalte sehr schnell wieder vergessen werden. Kompetenzen zielen darum darauf ab, dass Kinder und Jugendliche nicht nur wissen, sondern dieses Wissen auch anwenden und damit handeln können. Doch mit diesem Anspruch stellt sich auch die Frage, was mit dem Gefäss Religionsunterricht strukturell passiert. Welchen Beitrag an die religiöse Bildung kann der Religionsunterricht leisten, und wo sind die Grenzen seiner Möglichkeiten.

In den Kantonen, in denen der Religionsunterricht an den staatlichen Schulen stattfindet, steht er für einen kontinuierlichen Wissensaufbau. Aber er steht nicht für die Beheimatung in der Kirche und für eine Glaubenspraxis, er steht nicht für eine liturgische oder auch spirituelle Praxis.

Im Kanton Bern, wo der Religionsunterricht in den Pfarreien stattfindet, ist sein Beitrag an eine Beheimatung in der Pfarrei sicher grösser. Es ist aber auch hier so, dass man nicht davon ausgehen kann, dass beispielsweise das Feiern der Liturgie einfach im Rahmen des Religionsunterrichts gelernt wird. Hier überlegen sich die Pfarreien, in welcher Form Liturgiekatechese, also eine Hinführung zur Liturgie, passieren kann. Darum gibt es an vielen Orten die Kleinkinderfeiern, wo Kinder ins Feiern hineinwachsen und Wissen aufbauen. Auch solche Kleinkinderfeiern sind katechetische Gefässe.

In ähnlicher Weise verhält es sich mit ganz vielen religiösen Inhalten und Aussagen: Versöhnung, Gemeinschaft, Nächstenliebe, spirituelle Ausdrucksfähigkeit, all das kann man nicht nur theoretisch erlernen. Für solche Inhalte brauchen wir Orte, wo sie erlebt, erfahren und ausprobiert werden können. Darum verlangt die neue kompetenzorientierte Didaktik auch nach neuen Lerngefässen und Lernformen.

Konkret: wie soll ich mit Heiligen- oder Wundergeschichten umgehen?

Sie können der Meinung sein, diese seien einfach nur absurd. Vor allem dann, wenn man sie so liest, dass damit das Eingreifen einer göttlichen Macht in die Naturgesetze vor 2000 Jahren beschrieben wird. Das bringt in der Tat maximal für mich ein unterhaltsames Märchen, und ich kann hoffen, dass sich diese Fantasy erneut ereignen könnte.

Heutiger Religionsunterricht bricht eine solche Wundergeschichte nun auf und schaut, was in der Tiefenwirkung damit ausgesagt werden soll. Um was, im weitesten Sinn, geht es? Im Grunde genommen geht es dann darum, «heil zu werden», also offen zu werden, die Sinne aufzumachen, wieder handlungsfähig zu werden. Es geht um das Überwinden von Schwierigkeiten, von Ausgeschlossen-Sein und in all dem um eine bedingungslose Zusage von diesem Gott, der das alles ermöglicht.

Mit einer solchen Lesart ist man theologisch angreifbar, von sehr wortgetreuen Bibelauslegern. Gleichzeitig ist eine Geschichte, die sich jetzt erneut ereignen könnte, weil sie mich in die Tiefendimension meines Lebens führt, für mich viel wahrer als jede Legende, die mir nicht nahe kommt, die mit mir nichts zu tun hat. Religionspädagogik probiert schon lange, die Menschen mit diesen Geschichten in Beziehung zu bringen und ihr eigenes Leben im Spiegel dieser Geschichten zu betrachten. Die Kompetenzorientierung ist noch der pädagogisch-didaktische Schritt dazu, zu sagen, wir machen damit nun definitiv ernst.

Ist das für die Katechetin nicht sehr anstrengend?

In dieser Frage schwingt die Annahme mit, dass es einfacher sei, richtiges, korrektes Wissen weiterzutragen, als den Menschen persönliche Zugänge zu eröffnen. Das muss aber nicht unbedingt so sein. Menschen heute sind in der Regel nicht mehr bereit, Dinge unhinterfragt zu übernehmen. Lernen heisst heute: Du machst dir ein Wissen zu eigen und baust damit eine eigene Realität. Ob du dir dasselbe vorstellst, wie ich das tue, das können wir nie mit Sicherheit beweisen. Das ist in der Religionspädagogik genauso.

Traditionsweitergabe heisst heute, zu schauen, wo und wie sich die Menschen die Tradition zu eigen machen können. Nehmen wir noch einmal den 15. August. Es gab überall Kräutersegnungen. Das passt in unsere Zeit. Mehr Bioprodukte, mehr Nachhaltigkeit, mehr Selbstversorgung, sich besinnen auf das Feinstoffliche, sich selber etwas Gutes tun – damit erlebt die Kräutermedizin einen Aufschwung. Da haben wir einen Anknüpfungspunkt. Diese Tradition wird offenbar wieder wichtig für die hier lebenden Menschen. Man kann das jetzt zurückführen und darum beten, dass diese Kräuter ihre Wirkung auf allen Ebenen tun – dann wird es zum Eigenen, und ich kann es verwenden.
Menschen solche Zugänge zu eröffnen, ist die Kernaufgabe von Katechetinnen und Katecheten.

Ist das nicht sehr ambitioniert, vielleicht sogar kompliziert?

Vielleicht. Katechese, Glaube lernen, ist viel mehr als bloss Religionsunterricht. Wir müssen also über den Unterricht hinausschauen. Wie ist dieser in der Pfarrei eingebettet, was gibt es für andere Gefässe? Der neue Lehrplan gibt uns da recht. Es gibt Bereiche, die werden im traditionellen Religionsunterricht gelernt; es gibt aber andere katechetische Bereiche, für die man ausserhalb des Religionsunterrichts neue Gefässe erfinden muss. Da sind wir daran, Katechese neu zu denken, im Team Überlegungen anzustellen.

Dieser Wandel geht nie ohne Widerstand. Das generiert Reibung, fordert die Menschen heraus. Das ist nicht nur harmonisch. Es geht darum, mit den Teams in den Pfarrei en zu versuchen, einen Wandlungsprozess in Gang zu setzen. Es zeichnet sich schon jetzt ab, dass das vernetzte Denken ungemein wichtig wird. Denn schliesslich ist gute Katechese vernetzt in alle anderen pastoralen Bereiche.

Wo also passiert Glaubensvermittlung überall, wo passiert überall Gemeinschaftsaufbau usw. Wir wollen hier über den Tellerrand des Religionsunterrichts hinaus denken. «Out of the box» nennen wir diesen Prozess. Die üblichen Denkmuster verlassen.

So vieles ist vorhanden, wir müssten den Menschen nur Raum geben, dass das alles zum Tragen kommt. Es ist nicht so, dass die Menschen kein Interesse hätten oder nichts von uns brauchen würden. Im Gegenteil. Man muss dem Leben Raum geben. Aber wenn ich als Profi genau weiss, wie es sein muss, dann bin ich nicht empfänglich für etwas anderes, dann verpasse ich etwas.

Was trägt und tröstet Sie ganz persönlich?

Beziehungen. Ich habe auch kein statisches Gottesbild. Dieser Gott ereignet sich immer wieder neu. Gott ist ein Tätigkeitswort und kein Hauptwort, eingegossen in eine Zeit. Mich tragen und trösten Beziehungen. Da spüre ich immer wieder Tiefe, ich merke, dass da Sinn und Auseinandersetzung sind. Es ist mehr möglich, als die menschliche Logik mir weismachen will.

Was machen Sie leidenschaftlich gerne?

Abgesehen von der Arbeit? Da gibt es schon Dinge. Ich bin auch Mutter und Familienfrau, wir haben drei Kinder, zwei Buben, 13 und 11 Jahre alt, und eine behinderte Tochter, die 7 Jahre alt ist. Sie sitzt im Rollstuhl und ist auf Pflege angewiesen. Da ist zeitlich nicht sehr viel möglich. Ich lese gerne, wandere, jogge, reise. Aber viel Zeit nehme ich mir wirklich für Begegnungen. Ich liebe es mit Menschen zusammenzukommen.


Interview: Andreas Krummenacher

 

 

Zur Person
Anfang 2017 übernahm Judith Furrer Villa die Leitung der kantonalen Fachstelle Religionspädagogik. Sie absolvierte zunächst die Ausbildung zur Primarlehrerin. Anschliessend Studium der Theologie und Sozialarbeit in Fribourg. Die 44-jährige Theologin ist Mutter dreier Kinder und lebt in Wabern.

 

 


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Einen Hintergrundartikel zum Thema von Religionspädagoge Albert Biesinger

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